Frage: Herr Prof. Woll, Sie sind kürzlich 90 Jahre alt geworden – herzlichen Glückwunsch und alle guten Wünsche nachträglich. Schaut man auf Ihren frühen Lebenslauf, schien die akademische Laufbahn nicht vorgezeichnet. Mit 30 haben Sie – sicherlich auch kriegsbedingt – das Abitur am Abendgymnasium gemacht. Kam das Interesse am Studium spät, oder waren die Bedingungen vorher ungünstig?
Prof. Woll: Ich komme aus einer Familie mit sechs Kindern. Mein Vater war Bergmann und schon früh Invalide. Ich habe keinen Beruf erlernt, war Hilfsarbeiter bei der Bahn. 1940 bin ich als 17-Jähriger schon freiwillig Soldat geworden. Das habe ich gemacht, da man auf diese Weise die Waffengattung wählen konnte. Ich habe mich für die Luftwaffe entschieden, bin zum Piloten und schließlich zum Fluglehrer ausgebildet worden. Nach dem Krieg war ich bei der Bahn als Hemmschuhleger an einem Duisburger Verschiebebahnhof beschäftigt. Mit meiner Tätigkeit als Hilfsarbeiter war ich aber nicht zufrieden. Ich wollte weiterkommen. Als 1950 das erste Abendgymnasium in NRW in Duisburg öffnete, bin ich dorthin gegangen und habe 1954 mein Abitur gemacht. Der Direktor des Abendgymnasiums hat mich bei der Studienstiftung des Deutschen Volkes als Stipendiaten vorgeschlagen. So war es mir möglich zu studieren.
Frage: Wie kam die Studienwahl – Wirtschaftswissenschaft, Rechtswissenschaft, Politische Wissenschaft -, wie die Begeisterung für die akademische Laufbahn?
Prof. Woll: Die Wirtschaftswissenschaften hatten mich schon länger interessiert. Ich hatte viele Bücher aus diesem Bereich gelesen. Studiert habe ich in Köln. Einer meiner akademischen Lehrer war Heinrich Brüning. Dieser war von Ende März 1930 bis Ende Mai 1932 Reichskanzler. Bei ihm habe ich auch Politik studiert und meine erste Mitarbeiterstelle erhalten.
Frage: Dann ging alles recht schnell. Zehn Jahre nach dem Abitur erhielten Sie die Berufung auf einen Ordentlichen Lehrstuhl VWL in Gießen. Waren die Zeiten damals anders als heute?
Prof. Woll: Es ist vielleicht typisch für meine akademische Karriere, dass ich alles in kürzester Zeit absolviert habe. Nach dem Studienabschluss erhielt ich von einem meiner Dozenten, der einen Ruf nach Freiburg erhalten hatte, das Angebot, als wissenschaftlicher Assistent mitzukommen. In Freiburg bin ich dann promoviert worden und habe mich habilitiert. Ich hatte das Glück, guten Mentoren begegnet zu sein. Sie haben mich in die akademische Laufbahn geleitet. 1964 habe ich kurz nach der Habilitation einen Ruf nach Gießen an eine neu gegründete Fakultät für Staatswissenschaften erhalten, die aus Juristen und Ökonomen bestehen sollte. Ich war der erste Ökonom. Damals wurde das Hochschulwesen in Deutschland enorm ausgebaut, und es herrschte Personalnot. Es galt, wer nicht wenige Jahre nach der Habilitation berufen wurde, erhielt keine Berufung mehr.
Frage: 1972 kamen Sie als Gründungsrektor nach Siegen. Warum haben Sie diese Herausforderung angenommen?
Prof. Woll: Gewissermaßen scheint es mein Schicksal zu sein, auf Baustellen zu landen oder zu gründen. Nach Gießen und Siegen habe ich noch die wirtschaftswissenschaftliche Fakultät in Düsseldorf und eine Hochschule in Wuhan (China) mit aufgebaut. Ich hatte mich nach der Gründungsphase in Gießen wohlgefühlt. Doch 1972 wurde ich aus dem Urlaub in den Alpen nach Düsseldorf gebeten. Dort wurde in großer Eile ein Gründungsrektor für Siegen gesucht. Minister Johannes Rau und 400 Gäste hatten sich zur Feier der Eröffnung der Gesamthochschule in der Siegerlandhalle angesagt. Wenige Tage vor dem Termin war aber der designierte Gründungsrektor abgesprungen. Weil ich in Gießen erfolgreich aufgebaut hatte, wurde ich gefragt und hatte zwei Tage Bedenkzeit. Ich musste mich bei einem ehemaligen Mitarbeiter erst einmal kundig machen, was eine Gesamthochschule ist. Das Konzept hat mir sehr gefallen, zumal das damalige Universitätssystem einige Schwächen hatte. Ursprünglich hatte ich für eine Übergangszeit von wenigen Monaten zugesagt. Daraus sind dann über acht Jahre als Gründungsrektor geworden.
Frage: Über 40 Jahre später – wie hat sich aus Ihrer Sicht die Universität Siegen entwickelt?
Prof. Woll: Die Universität Siegen hat sich aus meiner Sicht sehr positiv entwickelt. Ich bin sehr angetan vor allem von den vielfältigen Forschungsaktivitäten. Ein wenig kritisch sehe ich die stetig zunehmende Studierendenzahl. Ich vermute, immer mehr Studierende machen sich zwangsweise für die Qualität der Lehre negativ bemerkbar. Man kann sich als Dozent nicht mehr so intensiv um den Einzelnen kümmern. 1978 ist die Universität Siegen in dem Magazin DER SPIEGEL als Paradies auf dem Hügel bezeichnet worden. Damals gab es ein maximales Dozenten-Studenten-Verhältnis von 1:30. In den Seminaren wurde noch wirklich diskutiert. Diese intensive Betreuung war meines Erachtens Grundlage eines qualitativ hochwertigen Studiums. Die hohen Studierendenzahlen sind aber ein allgemeines Problem und beileibe kein spezielles der Universität Siegen.
Frage: Sie haben etliche Auszeichnungen für Ihre Verdienste um das Hochschulwesen, für Ihre volkswirtschaftlichen Forschungsarbeiten und Ihre wissenschaftlichen Leistungen erhalten, darunter das Verdienstkreuz 1. Klasse. Sie sind Ehrensenator der Universität Siegen und haben zwei Ehrendoktorwürden erhalten (Uni Düsseldorf, Uni Gießen) – machen solche hochkarätigen Ehrungen zumindest ein wenig stolz in Anbetracht des Geleisteten?
Prof. Woll: Ich habe mich über die Auszeichnungen schon sehr gefreut, zumal mir der akademische Werdegang nicht in die Wiege gelegt worden ist. Die verschiedenen Orden habe ich für meine Verdienste um die Forschung und als Gründungsrektor erhalten. Die Anerkennungen, die in den Ehrenpromotionen zum Ausdruck kommen, sind für mich ein wenig bedeutsamer, weil sie die fachliche Wertschätzung durch Kollegen anzeigen.
Frage: Eine ganz banale Frage zum Abschluss: Sie sind schon eine ganze Zeit lang Emeritus. Wie sieht heute der Alltag aus, welche Hobbies, Steckenpferde haben Sie?
Prof. Woll: Das größte Glück ist, dass ich gesundheitlich gut dabei bin. Bis zum letzten Sommersemester habe ich Vorlesungen im Bereich der Wettbewerbspolitik gehalten. Ich bin als Emeritus ja berechtigt, aber nicht verpflichtet, alles zu tun, was ich vor der Emeritierung getan habe. Zum laufenden Wintersemester habe ich mit der Lehre aufgehört. Deshalb werde ich am 22. November offiziell von der Fakultät verabschiedet. Ich hatte immer noch um die 100 Studierende. Pro Vorlesung gab es zwei Klausuren. Die habe ich selbst durchgesehen. Jemanden mit der Notengebung zu betrauen, halte ich nicht für angemessen. Auch jetzt habe ich keine Langeweile. Ich habe Zeit, mich mehr um die Familie zu kümmern. Ich habe Frau und Zwillingstöchter. Eine Tochter ist Politikprofessorin in Paris. Sie macht mich bald zum zweiten Mal zum Großvater. Meine zweite Tochter arbeitet als UN-Vizedirektorin für Entwicklungspolitik in Addis Abeba. Ich mag Opern und habe über 250 davon auf CDs und DVDs. Ich verfolge weiterhin, was sich in den Fachwissenschaften tut, allerdings nicht mehr so intensiv wie zuvor. Ich bin immer noch Mitherausgeber der Zeitschrift „Das Wirtschaftsstudium.“ Auch die Tätigkeit werde ich bald einstellen. Man muss Beiträge für eine Zeitschrift akquirieren. Dafür benötigt man viele Kontakte. Ich fahre aber nicht mehr gern zu Tagungen, weshalb die wissenschaftlichen Kontakte schnell nicht mehr auf dem neuesten Stand sind. Ich versuche weiterhin gesund zu bleiben, habe nie geraucht, trinke nur mittags ein Glas Bier und gehe täglich spazieren.
Quelle: Uni Siegen, Pressemitteilung 22.11.2013