Neue Publikation des LWL-Instituts für westfälische Regionalgeschichte und der Historischen Kommission für Westfalen nimmt das Raumbewusstsein in den Blick
Viele an der Landesgeschichte Interessierte kennen noch das mehrbändige, 1931 begonnene Werk „Der Raum Westfalen“, das eine neue kulturräumliche Begründung des Landes bieten sollte. Westfalen war damit ein wissenschaftlich profilierter umfassender Raum und Raumbegriff für sehr unterschiedliche Regionen und Kulturen, keine bloß eingebildete Einheit. In den letzten Jahrzehnten war es ruhig um den Raum geworden, bis er mit dem „spatial turn“ der Geschichtswissenschaft wieder ins Bewusstsein kam. Nach langer „Raumvergessenheit“ wurden die Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften damit wieder „raumbewusst“ gemacht. Die davon ausgehenden Anregungen haben den Blick für die Vielfalt von Raumbegriffen und Raumkonzepten geschärft, auf den unterschiedlichsten Feldern historischer Forschung wurden neue Perspektiven und Fragestellungen eröffnet.
Deshalb haben das LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte, die Abteilung für westfälische Landesgeschichte der Universität Münster und die Historische Kommission für Westfalen im Rahmen einer gemeinsamen Tagung im Jahr 2007 in Soest die theoretisch-konzeptionellen Ideen des „spatial turn“ aufgegriffen, um ihre Brauchbarkeit und ihren erkenntnisfördernden Gewinn am konkreten Gegenstand Westfalen zu überprüfen. Zu dieser Veranstaltung legen die Veranstalter nun einen Tagungsband vor, der die Beiträge in erweiterter und mit Belegen versehener Form präsentiert.
Die 13 Beiträge des Bandes zeigen die gesellschaftliche Funktion und Wirkung von Raumvorstellungen und -bezügen in landeshistorischer Perspektive. Die Konstruktion eines Raumes „Westfalen“ durch die Kulturraumforschung der 1930er bis 1960er Jahre wird aus sprachgeschichtlicher und geographischer Perspektive kritisch beleuchtet, die Konkretisierung dieser Raumkonstruktion auf die Sichtweisen und das Handeln der Kulturpolitik und kultureller Eliten zurückgeführt. Studien zur Wechselwirkung von politischen Grenzen und mentaler Orientierung, von sozialem Handeln und regionaler Identität, zu Konflikten zwischen Regionalismen und zur niederländischen Sicht auf Westfalen beantworten die Frage nach dem Einfluss von Raumbegriffen. Nur selten ist dieser mit dem Anspruch und der Fähigkeit der Raumkonstrukteure gleichzusetzen. Beiträge zur raumprägenden Wirkung von Religiosität, Wirtschaftsstrukturen, Herrschaft, Verwaltung und Recht veranschaulichen schließlich die unterschiedliche Reichweite von Raumfaktoren und belegen die vielfache Überlagerung verschiedener Raumkonstruktionen in Westfalen.
Räume, Grenzen, Identitäten. Westfalen als Gegenstand landes- und regionalgeschichtlicher Forschung. Hrsg. von Bernd WALTER und Wilfried REININGHAUS. Paderborn 2013, 304 Seiten, Festeinband. (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen, Neue Folge 9; Forschungen zur Regionalgeschichte, Bd. 71.) Verlag Ferdinand Schöningh, ISBN 978-3-506-77771-3, Preis: 39,90 Euro
Die Beiträge des Bandes:
– Gerd SCHWERHOFF: Historische Raumpflege. Der „spatial turn“ und die Praxis der Geschichtswissenschaften (S. 11–27)
– Bernd WALTER: Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung aus regionaler Perspektive. Bilanz und neue Herausforderungen (S. 29–52)
– Gunnar TESKE: „Wenn wir von Westphalen reden, so begreifen wir darunter einen großen, sehr verschiedenen Landstrich“. Westfalen im Verständnis westfälischer Eliten (S. 55–90)
– Werner FREITAG: Fromme Traditionen, konfessionelle Abgrenzung und kirchliche Strukturen: Religiosität als Faktor westfälischer Identität (16.–18. Jahrhundert)? (S. 91–104)
– Wilfried REININGHAUS: Räumliche Dimensionen der Wirtschaft zwischen Rhein und Weser im 18. und 19. Jahrhundert (S. 105–121)
– Nicolas RÜGGE: Herrschaft, Verwaltung und Recht als Faktoren der Raumbildung in Westfalen (S. 123–138)
– Karl DITT: Der Raum Westfalen im 19. und 20. Jahrhundert als Gegenstand der Kulturpolitik (S. 139–170)
– Jürgen MACHA: Sprache als Faktor der Raumbildung? Anmerkungen zu Westfalen (S. 171–192)
– Hans Heinrich BLOTEVOGEL/Achim PROSSEK: „Geographische Grundlagen“ oder „räumliche Konstrukte“? Westfälische Räume und Grenzen aus geographischer Sicht (S. 195–220)
– Stefan GORISSEN: Zwischen Rheinland und Westfalen. Regionale Identitäten im südlichen Westfalen im 18. und frühen 19. Jahrhundert (S. 221–236)
– Alwin HANSCHMIDT: Emsland – Oldenburger Münsterland –Osnabrücker Land. Politische Grenzen und mentale Orientierungen in den ehemals nordwestfälischen Stiftsgebieten Münster und Osnabrück (S. 237–264)
– Guillaume VAN GEMERT: Westfalen aus der Sicht der Niederlande. Betrachtungen zu Kontinuität und Diskontinuität kollektiver Fremd- und Selbstwahrnehmung (S. 265–284)
– Dietmar VON REEKEN: Regionalismen im Konflikt. Auseinandersetzungen zwischen „Niedersachsen“ und „Westfalen“ in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (S. 285–297)
Quelle: Homepage Histor. Lommission für Westfalen, Publikationsseite