Anlässlich des Holocaust-Gedenktages erinnerte Traute Fries vom Aktiven Museum Südwestfalen (AMS) an die dritte Deportation von Menschen jüdischen Glaubens aus dem Kreis Siegen am 28. Februar 1943 nach Auschwitz-Birkenau.
Am 27. Februar 1989 wurde am Siegener Bahnhof, Gleis 4, eine Gedenktafel zur Erinnerung an die vier Deportationen angebracht. Klaus Dietermann, der verstorbene Gründer des AMS hatte die Idee dazu. Er war mit Wilhelm Fries, dem Vater der Verfasserin, zuvor am Bahnhof gewesen und hatte sich von ihm die Situation vom 28. Februar 1943 schildern lassen. Die Tafel, wegen der Bauarbeiten am Bahnhof abgenommen, wird zu gegebener Zeit wieder angebracht.
Zeitzeuge Wilhelm Fries (1901-2000) berichtete 1989:
„Von 1933 bis 1941 habe ich mit meiner damals fünfköpfigen Familie bei der Familie Samuel Frank in Weidenau gewohnt. Wir haben Freud’ und Leid mit Familie Frank geteilt. Hier lernte ich auch die jugendlichen Juden, unter ihnen Heinz Lennhoff, kennen. Am 1. Juni 1941 bezog ich eine Werkswohnung der Firma Weberwerke im Sieghütter Hauptweg 102, da, wo jetzt das Globuscenter/Kaufland ist. Einige Male wurden wir sonntags von Heinz Lennhoff und Kurt Winter besucht, bevor sie einen Ausflug nach auswärts unternahmen. Sie ließen sich nämlich von meiner Frau den gelben Stern abtrennen und abends – nach ihrer Rückkehr – wieder annähen.
Am 26. Februar 1943, ein Freitag, erschien Frau Lennhoff total aufgelöst in meiner Wohnung und erklärte, dass ihr Sohn Heinz bereits am Tag vorher von der Polizei geholt und nach Dortmund geschafft worden sei. Sie und die Familie Winter müssten am Sonntag, 28.02., um 10.00 Uhr am Bahnhof in Siegen sein, von wo aus sie ebenfalls nach Dortmund transportiert würden. Sie bat mich, ihr doch beim Packen eines Koffers zu helfen. Ich fuhr samstags nach Netphen, wo ich geholfen habe und nahm den Koffer für Heinz Lennhoff mit nach Siegen. Er war äußerst schwer und trug die weiße Aufschrift ‚Heinz Israel Lennhoff‘.
Von der Weidenauer Kleinbahn an haben mir Hitler-Jungen den Koffer bis zur Sieghütte getragen. Am Sonntagmorgen fuhr ich von der Wirtschaft Hundt, Hagener Straße, gegenüber Dango & Dienenthal, bis zum Bahnhof. Der Straßenbahnschaffner, der mich kannte, fragte mit Blick auf den Koffer: ‚Mensch, willste no Jerusalem?’ Ich antwortete: ‚Näh, ech komm werer.’ Es war das reinste Spießrutenlaufen, weil alle nach der Aufschrift des Koffers guckten. Auf dem Bahnsteig, weit oben, beinahe schon an der Brücke, waren sie bereits versammelt: Familie Holländer, Frau Rosenthal, die Ehepaare Lennhoff und Winter mit Tochter. Sie boten ein Bild des Jammers. Ein Waggon war für die Juden reserviert. Es war für sie die Fahrt in den Tod. Ob sie es wussten oder ahnten, ich weiß es nicht.
In unsere Unterhaltung mischte sich ein Bahnbeamter oder Wärter ein. Er stemmte die Arme in die Seite, stellte sich vor mich hin und sagte mit empörter Stimme: ‚Gibt es denn so etwas auch noch? Sie sind doch gar kein Jude! Was helfen Sie denen noch?‘ Ich sagte ihm: ‚Sehen Sie nicht den Zustand dieser Menschen? Lassen Sie uns bitte in Ruhe!‘ Wütend ging er zum Bahnhofsgebäude und kam mit zwei Kollegen auf uns zu. Ich bat die jüdischen Familien, sich in ihr Abteil zu begeben und ging über die Bahngleise zur Turnerstraße, Richtung Freudenberger Straße hin nach Hause. Damit war auch das Siegerland judenfrei, wie es im damaligen Sprachgebrauch hieß.
Montags mittags hatten wir Besuch – ich war zu Hause geblieben. Kurz nach dem Kaffeetrinken meldete sich bei uns an der Etagentür ein Mann. Meine Frau, die geöffnet hatte, kam mit erschrecktem Gesicht zurück. Es war ein Gestapomann. Er wollte sich bei mir – man höre und staune – die Sparkassenbücher der Familie Frank abholen. Familie Frank war bereits Ende April 1942 deportiert worden. Ich erklärte ihm, dass das sicher nur ein Vorwand sei und er wegen des Vorfalls vom vorherigen Tage auf dem Siegener Bahnhof komme. Er bestellte mich für mittwochs zu sich in den Siegener Hof (Pfarrstraße 2, Sitz der Siegerländer Außenstelle der Gestapostelle Dortmund), da er wegen der Mitbewohner keinen Aufruhr wollte. Die Vernehmung dauerte etwa zwei Stunden. Der Gestapomann erklärte zum Schluss, dass ich mich nicht zu schämen brauche, da ich ja nur den Menschen hätte helfen wollen! Ich habe ihm gesagt, dass es in unserer Familie immer üblich gewesen ist, Menschen in Not zu helfen, egal ob Juden oder Deutschen. Dies wurde selbstverständlich protokolliert.
Nach Pfingsten 1943 wurde ich erneut von der Gestapo vorgeladen. Ein Dortmunder Gestapomann hielt mir vor, dass ich bei der Vernehmung zuerst die Juden genannt hatte. Es folgte ein Verhör mit teils heftiger Auseinandersetzung. Er machte mir deutlich, dass er mit mir machen könne, was er wolle. Ich habe daraufhin gefragt, ob es denn mit der Rechtsprechung schon so weit gekommen sei. Dabei war ich mir bewusst, dass ich in einem Unrechtsstaat lebte. Er hat mich rausgeschmissen. Ich hatte Glück. Nach dieser Vernehmung wurde ich von dem Gestapomann, der mich im März vernommen hatte, bei einem Waldspaziergang mit meinen Kindern gewarnt. Ich solle mich zurückhalten, keine Post der Juden mehr beantworten. Die Siegener Gestapo sei von Dortmund beauftragt, mich bei der nächsten Gelegenheit zu verhaften. Dieser Gestapomann war wohl eine Ausnahme von der Regel. Er zeigte menschliche Züge, ich vermute wegen meiner Familie.
Heinz Lennhoff hat meiner Frau und mir vier Postkarten aus dem KZ geschrieben. Mitte Dezember 1944 habe ich das letzte Lebenszeichen von ihm aus dem Arbeitslager der IG-Farben bei Auschwitz erhalten. Ich vermute, die jungen Männer sind im Arbeitslager verhungert. Die Eltern Lennhoff und Winter sowie ihre Tochter wurden durch Gas getötet. Das Schicksal dieser Menschen darf niemals in Vergessenheit geraten.“
Am 1. März 1943 setzte der Deportationszug mit rund 1.500 Juden seine Fahrt, die von Stuttgart über Trier und Düsseldorf führte, von Dortmund über Bielefeld nach Berlin bis Auschwitz fort. In der Nacht vom 3. auf den 4. März erreichte der Zug sein Ziel, so berichtet der überlebende Zeitzeuge Hans Frankenthal aus Schmallenberg (1926-1999). An der Rampe wurden die Menschen selektiert. Zu den 820 Menschen, die direkt in den Gaskammern getötet wurden, gehörten vermutlich auch Minna und Fred Meier aus Littfeld.
Wie soll man da schreiben, das gefällt mir ?
Man möchte weinen.
Aber es ist gut, die Erinnerung für die Zukunft aufzubewahren.