75 Jahre Geschichte
Um in Franz Huchts Reich zu gelangen, muss man eine Treppe bis ganz nach oben steigen. Im Dachstuhl erwartet er einen dann. Als man hier in einem Nebengebäude des Jugendhauseses Hardehausen ein Archiv einrichtet, reicht dafür noch ein kleiner Raum mit großem Aktenschrank. Das ist 1977, da gibt es schon 30 Jahre Geschichte des BDKJ. Heute sind es 75 Jahre und der Raum ist längst zu klein geworden. Die Dokumentationsstelle für kirchliche Jugendarbeit
erstreckt sich mittlerweile über die komplette Fläche des Dachgeschosses und versammelt neben Briefen und Akten aus der Anfangszeit auch Fahnen, alte Pfadfinderkluften und kistenweise Fotos.
Die Anfänge
Dass Franz Hucht seiner Arbeit als Archivar ausgerechnet in Hardehausen nachgeht, ergibt Sinn. Denn hier nimmt alles seinen Anfang. Drei Jahreszahlen sind dafür wichtig: Unmittelbar nach Kriegsende 1945 entdeckt Diözesanjugendseelsorger Augustinus Reineke das ehemalige Zisterzienserkloster für die kirchliche Jugendarbeit und führt dort noch im selben Jahr erste Gruppenleiterkurse durch. 1946 veranstaltet die Jugendgruppierung „die Schar“ hier ein Pfingstzeltlager mit 2.500 jungen Menschen. 1947 wird in Hardehausen die Gründung des BDKJ beschlossen – maßgeblich unter dem Vorsitz von Ludwig Wolker. Der war vor dem Krieg Generalpräses des Katholischen Jungmännerverbandes und wird nun von den Bischöfen beauftragt, die katholische Jugendarbeit in Deutschland neu aufzubauen.
Mit diesen drei Ereignissen verbinden sich direkt zwei Streitfragen, die in der Anfangszeit eine große Rolle spielen, aber auch die weitere Geschichte des Verbandes beeinflussen, teils bis heute:
1. Wie soll kirchliche Jugendarbeit organisiert sein?
Das NS-Regime hatte 1937 alle katholischen Jugendverbände verboten. Einzig eine „rein-religiöse“ Jugendseelsorge blieb erlaubt. Die war an den Pfarrer als Leiter gebunden. Nach dem Krieg hieß es nun in vielen Diözesen, auch in Paderborn: Weiter so! Denn „so schlimm die Verbotszeit auch gewesen war, die Bischöfe hatten gemerkt, dass sie religiöse Jugendarbeit selbst gestalten konnten“, sagt Franz Hucht. Vor dem Krieg waren die katholischen Verbände unabhängig, ihre Führungspositionen von gewählten Laien besetzt gewesen. Da habe es durchaus auch Konflikte zwischen Leitung und Klerus gegeben, sagt Franz Hucht. Deshalb wollten die Bischöfe nun die Regie über die Jugendarbeit behalten.
Diözesanjugendseelsorger Augustinus Reineke sieht das auch so. Ihm schwebt eine katholische Jugendarbeit vor, die eng mit den kirchlichen Strukturen und dem religiösen Leben in der Pfarrei verknüpft ist. Warum? Das hat mit der zweiten Frage zu tun.
2. Wie soll katholische Jugendarbeit inhaltlich aussehen?
Augustinus Reineke ist stark von der Liturgischen Bewegung geprägt. Seine Vision der Jugendarbeit ist es, junge Menschen an die Liturgie heranzuführen und sie mit religiösem Wissen auszustatten. Sie sollen über sich selbst und ihren Glauben lernen. Reinekes Fokus ist innerkirchlich.
Ganz anders bei Ludwig Wolker. Der Leiter der 1945 neu geschaffenen Bischöflichen Hauptstelle für Jugendseelsorge in Altenberg sieht in der katholischen Jugend eine gesellschaftsverändernde Kraft. Darum muss eine katholische Jugendorganisation in seinen Augen so viele junge Menschen wie möglich ansprechen – ob als Pfarrjugend oder im Verband ist ihm weniger wichtig.
Paderborner Besonderheit
Im Erzbistum Paderborn gibt es dann noch die Besonderheit der „Schar“. Das ist eine Gruppierung junger Katholiken, die sich als eine Art religiöse Elite verstehen. Wie Reineke legen sie den Schwerpunkt ihrer Arbeit auf die religiöse Bildung. Sie wollen die Jugendarbeit in den Pfarreien gestalten. Gleichzeitig sehen sie sich aber in der Tradition der Bünde und Verbände von vor 1937. Sie wollen ihre Leitungen frei wählen und sich als junge katholische Laien engagieren. Anders als im Rest der deutschen Bistümer werden sie im Erzbistum Paderborn zu einer gewichtigen Stimme. Teilweise unterstützen sie Reinekes Positionen, aber die Beziehung bleibt nicht konfliktfrei.
Letztlich holt die Realität die Paderborner Vorstellungen ein. Die Mitglieder der ehemaligen Pfadfindergruppen und Jugendverbände finden sich wieder zusammen und nehmen ihre Jugendarbeit wieder auf. Ludwig Wolkers Ansatz setzt sich auf der Gründungskonferenz durch. Die Verbände werden wiedererrichtet. Daneben bleiben die Pfarrjugenden aus Kriegszeiten weiter bestehen – und heißen jetzt Bund Deutscher Katholischer Jugend (BDKJ). Und Ludwig Wolker wird 1947 erster Bundespräses.
Umbrüche in den 1960er Jahren
Wie die Gesellschaft erlebt auch die Kirche in den 1960er Jahren große Umbrüche. Das schlägt sich in den Jugendverbänden nieder. Doch es tut sich auch intern etwas. Denn „der BDKJ zieht nicht mehr“. Für Franz Hucht zeigt sich das ganz deutlich an den Teilnehmendenzahlen der großen Bundesfeste des BDKJ. „Das erste findet 1954 in Dortmund statt. Da kommen 120.000 junge Menschen auf dem Hansaplatz zusammen.“ Beim dritten Bundesfest elf Jahre später sind es nur noch 30.000 Teilnehmende. Da lag etwas im Argen. „Deshalb hat man auf Bundesebene eine mehrjährige Strukturreform angestoßen.“
Im Erzbistum Paderborn übernimmt 1969 ein neues Leitungsteam die Führung des BDKJ. Es wird eine Studie auf den Weg gebracht, die den Stand kirchlicher Jugendarbeit ermittelt. Darauf fußend entwickelt man neue Leitlinien, die 1974 durch Erzbischof Johannes-Joachim Degenhardt in Kraft gesetzt werden. Dabei geht es wieder um die beiden Fragen:
1. Wie soll kirchliche Jugendarbeit organisiert sein?
Im Gegensatz zu Pfadfindern und anderen Verbänden fehlt der Pfarrjugend ein Zusammengehörigkeitsgefühl, was sich in Mitgliedszahlen und Engagement zeigt. Abhilfe schaffen soll eine stärker verbandliche Struktur. Außerdem gibt es immer eine Gruppe für Jungen und eine für Mädchen. Das entspricht nicht mehr den pädagogischen Vorstellungen der Zeit. Deshalb formt man aus Katholischer Jungmännergemeinschaft und Katholischer Frauenjugendgemeinschaft 1969 die Katholische junge Gemeinde (KjG). Die KjG tritt an die Stelle des BDKJ als Pfarrjugend und der BDKJ wird – wie er es bis heute ist – Dachverband für alle katholischen Jugendverbände. Damit ist er auch Ansprechpartner für staatliche Stellen. Bis auf die Pfadfinderinnen St. Georg (PSG) verlegen sich nach und nach alle Verbände auf die Koedukation von Jungen und Mädchen.
2. Wie soll katholische Jugendarbeit inhaltlich aussehen?
Es ging auch darum die „Jugendarbeit inhaltlich neu zu begründen und auf den Stand der Zeit zu bringen“, sagt Hucht. Die Trennung zwischen religiöser Jugendbildung und sonstiger Jugendarbeit wird überwunden. „Stattdessen geht es von nun an um Freizeitgestaltung aus christlicher Perspektive heraus“, sagt Hucht. Und die wird professionalisiert: In den Dekanaten werden jetzt pädagogische Fachkräfte für die katholische Jugendarbeit hauptamtlich eingesetzt. In den im Zuge des Zweiten Vatikanischen Konzils eingeführten Pfarrgemeinde- und Dekanatsräten gibt es Ausschüsse für Jugendarbeit. Und junge Erwachsene werden für die Leitung der Gruppen gewonnen und durch Kurse geschult.
Das Feld der kirchlichen Jugendarbeit wird so dicht bestellt wie nie zuvor. Vieles wird ausprobiert, nicht alles funktioniert. Aber insgesamt haben die Maßnahmen Erfolg und die Konzepte, die in den 1970er Jahren angestoßen wurden, prägen den BDKJ und die Jugendverbände bis heute.
Katholische Jugend für Frieden und Gerechtigkeit
Wie christlicher Glaube und gesellschaftliches Engagement zusammengehen können, zeigen BDKJ und Jugendverbände ganz konkret: 1961 rufen BDKJ und das heutige Kindermissionswerk Die Sternsinger die Aktion Dreikönigssingen ins Leben, die bis heute größte Spendensammelaktion von Kindern für Kinder. In den 1970er Jahren kommt das entwicklungspolitische Engagement hinzu, vielerorts entstehen Eine-Welt-Läden. Die 1980er Jahre sind geprägt vom Einsatz der jungen Menschen für Frieden in der Welt. Und auch heute setzen sich junge Katholikinnen und Katholiken für die Gesellschaft ein, etwa mit der 72-Stunden-Aktion
.
Diese Projekte und Aktionen haben auch in der Kirche viel in Bewegung gebracht. „Durch den BDKJ und die Jugendverbände haben diese Themen ihren Weg in die Kirche gefunden“, sagt Franz Hucht. Stichwort Frieden: Bevor sich die katholische Jugend dafür stark macht, lehnt der Klerus das Thema Abrüstung eher ab. Durch das Engagement der jungen Menschen wird es dann aber auch theologisch diskutiert. Ähnlich sei es beim Thema Musik und Gestaltung der Gottesdienste, sagt Hucht. „Jazz in der Kirche oder SacroPop – das waren Konfliktthemen. Durch die Jugendverbände ist das dann in die kirchlichen Prozesse aufgenommen worden.“
Ein Dachboden voll Geschichte
Mit Blick auf 75 Jahre Geschichte kann man die alte Streitfrage vielleicht als gelöst betrachten: Der BDKJ und die Jugendverbände sind beides, innerkirchlich aktiv und gesellschaftsverändernde Kraft. „Die Jugendgruppe ist ein Ort, an dem Aktivität, Gemeinschaft und soziales Lernen passieren, an dem man sich aber auch als Gruppe junger Christinnen und Christen im Glauben erfährt“, sagt Franz Hucht. Wer der katholischen Jugendarbeit vorwerfe, es gehe bei Zeltlagern und Gruppenstunden nicht genug um Religion, dem antwortet er: „Indem sich junge Menschen engagieren und an den Aktionen der Jugendverbände teilnehmen, lernen sie eine ganze Menge über den Glauben.“
Beweise dafür stapeln sich bei Franz Hucht in der Dokumentationsstelle wortwörtlich bis zur Decke. Die Zeugnisse der bewegten Jahre und Jahrzehnte liegen fein säuberlich in Archivkartons. Aber auch noch in Umzugskartons und unkatalogisiert in Regalen. Franz Hucht hat noch ordentlich zu tun. Und weil die Geschichte des BDKJ 2022 noch lange nicht zu Ende ist, muss er sich irgendwann vielleicht nach einem weiteren Dachboden in Hardehausen umgucken.
Quelle: Erzbistum Paderborn, News, 2.6.2022