Familiengeschichten, Schatztruhen und andere Archive
Einführung
Zum 9. Detmolder Sommergespräch kommen knapp 100 Gäste in das Archiv, darunter Referenten aus Universitäten, historischen Vereinen, Archiven oder Museen. Die bunte Varietät der Redner führt zu vielfältigen Ansätzen bei Themen wie Familie und dem Archivieren. Und da man schon in den Genuss der Multiperspektivität kommt, kann man sich auch einem für Historiker schwierigen Thema widmen: Dem Vergessen.
Nach der Begrüßung durch FRANK M. BISCHOFF, dem Präsidenten des Landesarchivs NRW, beginnt der diskussionsreiche Tag mit einer Einführung von Dr. Bettina Joergens, Dezernatsleiterin des Landesarchivs NRW Abt. OWL und konzeptionell und organisatorisch Verantwortliche für die Detmolder Sommergespräche. Mit einer Reihe von Fragen, in denen sie nach Ursachen, Bedeutungen und Folgen des Aufbewahrens fragt, stellt sie die Aufgaben des Archivs einer bloß ökonomischen Betrachtung von Daten gegenüber. Sie veranschaulicht mit eigenen Zeugnissen, dass Quellen dazu verhelfen, sich mit Menschen über die Grenzen ihrer Lebensdauer hinweg in Beziehung zu setzen.
Darauf folgt ein Abriss der Geschichte des Archivs aus kulturhistorischer Sicht von MARKUS FRIEDRICH aus der Universität Hamburg. Er sieht in der Selbstverständlichkeit der Präsenz von Archiven Erklärungsbedarf und benennt drei Phänomene, die eine tiefe Verankerung des Archivs mit der Gesellschaft zeigen: die Notariatsarchive Italiens im 12. Jahrhundert, die verschriftlichten Herrschaftsverträge der späten Feudalgesellschaft und die Genealogie des 16. Jahrhunderts. Ferner stellt Friedrich die Krise als entscheidendes Moment der Archivgeschichte dar und plädiert für eine Erforschung der Archivnutzung mit all seinen dazugehörigen Momenten des Scheiterns.
1. Sektion: Weiße Flecken: „nicht aktenkundig“ – „Angaben gelöscht“
Bereits der für Archivare provokante Titel „Das Recht auf Vergessenwerden“ deutet auf die Brisanz des Vortrags von ANDREA HÄNGER aus dem Bundesarchiv in Koblenz. Sie referiert zur EU-Datenschutz-Grundverordnung. In einem Vermittlungsverfahren zwischen dem Europäischen Parlament und dem Rat der EU sollen bis 2016 personenbezogene Daten besser geschützt werden. Nachdem ursprünglich jegliche Weiterarbeitung von Daten außerhalb ihres Zwecks verhindern werden sollte, was enorme Konsequenzen für die Archive hätte, pendele sich allmählich eine Sonderregelung für wissenschaftliche Nutzung ein. Die Kooperationsbereitschaft der Archive sei trotz der schwierig gestalteten Kommunikationssituation unabdingbar, um neue Perspektiven zu eröffnen.
Daran knüpft der Vortrag von MATTHIAS FRÖLICH aus dem LWL-Institut für Regionalgeschichte in Münster über Heimkinder aus der Nachkriegszeit an. Er problematisiert die aufgrund „wilder Kassationen“ und unzureichender Archivierung mangelhafte Quellengrundlage. Frölich stellt drei bedeutende Quellentypen zu der zudem verschwiegenen Tragik vor: Die Heimaufsichtsakten des Landesjugendamtsarchivs, die Straf- und Aufnahmebücher der Heime und die Einzelfallakten der Fürsorgeerziehung. Anhand dieser Akten zeigt Frölich wiederkehrende Topoi von als deviant eingestuftem Verhalten und betont, dass sie zur Disziplinierung und Zucht angelegt wurden. So sagen die Akten mehr über die Verfasser aus als über die Zöglinge, weshalb Ergänzungen durch Zeugnisse der Heimkinder unverzichtbar seien.
2. Sektion: Persönliche Schätze: was bleibt
Im folgenden Vortrag stellt HANS-CHRISTIAN SCHALL ein Projekt des Genealogischen Arbeitskreises Lippe vor: Torbögen als Quelle für Familien- und Hofgeschichte. Dabei erörtert Schall den Quellenwert von Hausinschriften, die in Lippe auf eine mittlerweile 500 Jahre alte Tradition zurückblicken können und sich von rudimentären Signaturen der Erbauer bis hin zu ausführlichen Kommentaren entwickelten. Das Projekt umreißt er mit zahlreichen Fotos und ansehnlichen Statistiken: 3.196 Gebäude seien dokumentiert und 1.810 fotografiert worden. Als Ausblick betont Schall mit Sorge die Verluste durch Abriss, Brand oder Bauschäden, berichtet aber auch von zufälligen Funden und spendet so Hoffnung für andere Leerstellen in der Überlieferung.
Quellennah bleibt es auch beim Vortrag von FRAUKE VRBA des Tagebucharchivs Emmedingen, den sie mit der Lesung einiger Tagebucheinträge von 1945 beginnt. In Anlehnung an die Mikrogeschichte führt Vrba die Bedeutung von Tagebüchern als Quelle vor und tritt für eine Methode auf, die nicht statistisch-quantifizierend, sondern durch exemplarische Analyse die Quellen in den Fokus rückt. Darüber hinaus liefert sie einen Überblick über Geschichte und Arbeitsweise des 1998 gegründeten Tagebucharchivs, das in Partnerschaft mit Schulen und anderen Tagebucharchiven steht. Zudem werden einige der insgesamt 15.800 Zeugnisse seit 2014 im hausinternen Museum präsentiert.
3. Sektion: Systematisches Archivieren: Warum?
Die letzte Sektion wird mit einem Beitrag von MARIE-LUISE CARL eröffnet, der Vorsitzenden des Vereins für Computergenealogie. Sie benennt die Vorteile von digitalen Nachlässen und gibt praktische Hinweise zu ihrer Strukturierung und Nutzung. Dazu gehöre darauf zu achten, wer das digitale Archiv übernehmen soll, gängige Formate zu nutzen, eine möglichst verständliche Ordnung zu schaffen und diese zu dokumentieren. Sie empfiehlt, Dritte prüfen zu lassen, ob das eigene Archiv selbsterklärend ist und Ergebnisse von Familienforschung mit einem Genealogieprogram zu verwalten.
HERRMANN NIEBUHR stellt fest, dass Nachlässe auf ihrem Weg ins Archiv drei Selektionsstufen bewältigen: Erstens müssen sie vom Eigentümer aufgehoben, zweitens dem Archiv übergeben werden und drittens muss das Archiv die Archivalien annehmen. Alles, was im letzten Schritt auf der Strecke bleibt, lasse sich mithilfe einer Bestandsaufnahme der Überlieferung und der Kenntnis von Übernahmekriterien des Archivs zumindest erahnen. Solche Übernahmekriterien wurden für das Landesarchiv in dem Dokumentationsprofils festgelegt. Für den zweiten Schritt, also der Übergabe an das Archiv, rät Dr. Niebuhr zum Dialog mit demArchiv.
Im letzten Vortrag verdeutlicht KATHARINA SCHLIMMGEN vom LWL-Freilichtmuseum Detmold anhand von Beispielen, wie Familienobjekte ins Museum kommen und plädiert für einen biographischen Ansatz im Gegensatz zu einem typ- oder entwicklungsgeschichtlichen Zugang, um die hohe Emotionalität der Objekte zu erhalten. Weiterhin macht sie auf Leerstellen in der Überlieferung deutlich, die sie in der Ausstellung auch als solche kenntlich macht, zum Beispiel durch Verweise auf Rekonstruktionen oder gar Ausstellung von leeren Vitrinen. So erreicht das Museum nicht nur ein hohes Maß an Authentizität, sondern erzählt auch die Geschichte der lückenhaften Überlieferung.
Versöhnen wird sich der Historiker mit diesen Lücken wohl nicht, aber er kann sie akzeptieren. Das Sommergespräch hat dazu beigetragen, die Möglichkeiten und Problemstellungen der verschiedenen Themen in einem offenen Diskurs zu thematisieren und wird daran mit dem noch zu publizierenden Tagungsband anknüpfen.
Tagungsablauf
Begrüßung
Dr. Frank M. Bischoff, Präsident des Landesarchivs NRW, Duisburg
Einführungen
Dr. Bettina Joergens, Landesarchiv NRW Abt. OWL, Detmold
Sammeln? Tradieren? Überliefern? Archivieren – ein kulturhistorischer Längsschnitt
Prof. Dr. Markus Friedrich, Universität Hamburg
1. Sektion: Weiße Flecken: „nicht aktenkundig“ – „Angaben gelöscht“
Moderation: Dr. Bettina Joergens
Das Recht auf Vergessenwerden – EU-Datenschutz-Grundverordnung und das Bundesdatenschutzgesetz
Dr. Andrea Hänger, Bundesarchiv Koblenz
Heimkinder – Kinder ohne Vergangenheit? Spurensuche und Dokumentenpuzzle
Matthias Frölich, LWL-Institut für Regionalgeschichte, Münster
Archivführungen
„Bunte Schätze – Schandbilder, Bildtafeln und Karten“
„Firma und Familie auf der Spur – Recherchemöglichkeiten am Beispiel der Unternehmerfamilie Juhl“
„Überlieferung im Verbund von Land und Stadt: Standesamtsregister und Einwohnermeldeunterlagen als Quellen der genealogischen Forschung“
2. Sektion: Persönliche Schätze: was bleibt
Moderation: Roland Linde, Münster
Torbögen als Quelle für Familien- und Höfegeschichte(n). Ein Projekt des Genealogischen Arbeitskreises Lippe
Hans-Christian Schall, Bad Lippspringe
Das Tagebuch als Lebensspeicher
Frau Vrba, Tagebucharchiv Emmendingen
3. Sektion: Systematisches Archivieren – warum?
Moderation: Dr. Joachim Eberhardt, Lippische Landesbibliothek Detmold
Digitale persönliche Archive – der digitale Nachlass
Marie-Luise Carl, Verein für Computergenealogie, Mettmann
Persönliches und Familiäres im Archiv: Private Nachlässe und kleine Erwerbungen
Dr. Hermann Niebuhr, Landesarchiv NRW Abt. OWL, Detmold
„Familienobjekte“ in einem kulturgeschichtlichen Museum: Überlegungen und Fragen
Katharina Schlimmgen M.A., LWL-Freilichtmuseum Detmold