Positionspapier von Aktives Museum Südwestfalen e.V., Geschichtswerkstatt Siegen e.V., Prof. Dr. phil. Eva von Engelberg, Architekturgeschichte an der Universität Siegen, und VVN-BdA Siegerland-Wittgenstein
Das System der Zwangsarbeit ist eines der größten Massenverbrechen des Nationalsozialismus. Zwangsarbeiter*innen mussten in den Betrieben ebenso arbeiten wie in der Landwirtschaft und den Haushalten. Mit Beginn des Überfalls der Wehrmacht auf die benachbarten Staaten stieg die Zahl ausländischer Arbeitskräfte bis zum Kriegsende stetig an. Insgesamt spricht die Forschung von bis zu 13,5 Millionen Opfern der Zwangsarbeit in Deutschland. Allein 3,3 Millionen Kriegsgefangene aus der Sowjetunion starben dabei als Zwangsarbeiter*innen im Deutschen Reich. Ohne Zwangsarbeiter*innen wäre die deutsche Wirtschaft kollabiert. Gleichzeitig war dieses System Ausdruck nationalsozialistischer Rassenideologie.
Umso erstaunlicher ist, dass dieses Verbrechen in der Nachkriegszeit so konsequent verdrängt wurde. Es war doch vor aller Augen geschehen und gebilligt worden und schloss die unmenschliche Behandlung der Zwangsarbeiter*innen sowie deren Misshandlungen bis zum Tode mit ein. Erinnert sei auch an die verschleppte Diskussion um Entschädigungszahlungen und die erst im Jahr 2000 gegründete Stiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“.
Das Siegerland war in diesem System keine Ausnahme. Im Jahr 1944 lag die Zahl der nichtdeutschen Arbeitskräfte im Arbeitsamtsbezirk Siegen bei ca. 15.000. Noch heute zeugen mehr als 1000 Gräber im Siegerland von deren Schicksal.
Eine wissenschaftliche Aufarbeitung des Themas für unsere Region brachte erst die Veröffentlichung des Historikers Ulrich Opfermann aus dem Jahr 1991. Sein Buch „HeimatFremde ‚Ausländereinsatz‘ im Siegerland, 1939 bis 1945: wie er ablief und was ihm vorausging.“ zeichnet ein umfassendes Bild des Systems der NS-Zwangsarbeit im Altkreis Siegen und angrenzenden Raum und ordnet dies in den übergeordneten historischen Kontext ein. Opfermann war es auch, der das Hilfskrankenhaus in der Fludersbach dem Vergessen entriss und Zeugenaussagen zu den schrecklichen Geschehnissen aufzeichnete.
Durch diese Publikation angestoßen und getragen folgten bis heute Aktivitäten aus der Zivilgesellschaft, um das Schicksal der Zwangsarbeiter*innen in unserer Region nicht in Vergessenheit geraten zu lassen z.B.
- der Blog der VVN-BdA Siegerland-Wittgenstein „Mitten unter uns. Zwangsarbeit im Siegerland 1939-1945“ (2011)
- angestoßen durch eine Publikation des Aktiven Museums aus den 80er Jahren eine breite gesellschaftliche Diskussion über die Namensgebung des „Friedrich-Flick-Gymnasiums“ in Kreuztal wegen Flicks Verurteilung als Kriegsverbrecher im Zusammenhang mit massivem Zwangsarbeitereinsatz in seinen Unternehmen (Umbenennung in „Städtisches Gymnasium Kreuztal“ 2008)
- diverse Besuche von ehemaligen Zwangsarbeiter*innen, begleitet von gesellschaftlichen Akteuren sowie Publikationen und Nachforschungen u.a. von Schulklassen
- öffentliche Podiumsdiskussion in der Martinikirche zur Erinnerungskultur zum Thema im Anschluss an eine Theateraufführung des Stückes „Fremde.Heimat.Erinnerung“ von „Junges Theater Siegen“ (2022)
- die Ausstellung „Verschleppt. Ausgebeutet. Vergessen? Zwangsarbeit im Siegerland“ des Aktiven Museums 2023 mit über 800 Besucher*innen,
- Aufruf des Aktiven Museums zur Schaffung eines Gedenk- und Lernortes zur Zwangsarbeit in der Fludersbach (März 2024)
Die Stellungnahme des LWL-Archäologie für Westfalen mit dem Titel „Kellerräume des ‚Hilfskrankenhauses‘, Fludersbach 126 (AKZ 5114,804). Denkmalfachliche und denkmalrechtliche Bewertung“ vom 21.06.2024 macht uns Hoffnung. Der Ort ist nun vorerst geschützt, vor dem leichtfertigen „Wegbaggern“ bewahrt und wird von den Fachleuten der LWL-Archäologie erforscht und dokumentiert.
Die Stellungnahme des LWL-Archäologie ist unter diesem Link Stellungnahme des LWL-Archäologie im Rathausinformationssystem der Stadt Siegen abrufbar.
Das Schicksal der Menschen, die dort gelitten haben und gestorben sind, wovon auch der benachbarte Zwangsarbeiter*innenfriedhof zeugt, darf nicht wieder vergessen werden. Die erhaltenen baulichen Zeugnisse markieren den authentischen Ort des Geschehens. Es muss möglich sein, künftig am Ort zu gedenken.
Wie dies konkret aussehen kann, muss Ergebnis einer öffentlich geführten Diskussion sein. Wir möchten diese Diskussion fördern und laden alle Interessierten und andere zivilgesellschaftliche Gruppen ein, sich daran zu beteiligen. Wir werden nach unseren Möglichkeiten Angebote machen, sich mit dem Thema „NS-Zwangsarbeit“ und deren baulichen Zeugnissen zu beschäftigen. So kann der Umgang mit authentischen Erinnerungsorten in Lehrveranstaltungen thematisiert werden. Ab sofort steht das vergriffene Buch von Ulrich Opfermann als PDF mit Volltextsuche und als optimierte Datei für E-Book-Reader (epub) für den kostenlosen Download unter zwangsarbeit-im-siegerland.de/literatur zur Verfügung.
Machen wir uns das Stiftungsmotto zu eigen: Erinnerung! Verantwortung! Zukunft!
Literaturauswahl
- Ulrich Opfermann: HeimatFremde „Ausländereinsatz“ im Siegerland, 1939 bis 1945: wie er ablief und was ihm vorausging. Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung Bd. III Herausgegeben vom Förderverein „Geschichte der Arbeiterbewegung und der Gewerkschaften für den Kreis Siegen-Wittgenstein“ e.V. Hell&Dunkel Verlag, Siegen 1991
- Spoerer, Mark, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und Häftlinge im Deutschen Reich und im besetzten Europa, Stuttgart, München 2001
- Volkhard Knigge, Rikola-Gunnar Lüttgenau und Jens-Christian Wagner: Die Deutschen, die Zwangsarbeiter und der Krieg – Begleitband zur internationalen Wanderausstellung. Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, Wallstein Verlag, Weimar 2010
- Blog der VVN-BdA Siegerland-Wittgenstein „Mitten unter uns – Zwangsarbeit im Siegerland 1939-1945“ (2011), zwangsarbeit-im-siegerland.de
- siwiarchiv.de: „Die Fludersbach als Gedenkort zur Zwangsarbeit im Siegerland entwickeln“
1) Gestern erschien online in der Westfälischen Raundschau der Artikel “ Siegen: Verhindert Denkmal unter Kaufland Fludersbach den Abriss?“ von Hendrik Schulz – leider hinter der Bezahlschranke. Der Artikel stellt den bisherigen Sachverhalt einschließlich des Positionspapiers dar und wird auf der Facebook-Seite der Zeitung bereits diskutiert.
2) Ebenfalls gestern veröffentlichte auch die Siegener Geschichtswerkstatt das Positionspapier mit einem einführenden Text:
https://geschichtswerkstatt-siegen.de/2024/07/16/hilfskrankenhaus-fuer-zwangsarbeiterinnen/
s. nun:
Radio Siegen meldet heute:
„Gedenkstätte für Siegerländer Zwangsarbeiter? Sie könnte in der Siegener Fludersbach entstehen.
Die Kellerräume des ehemaligen Kaufland-Gebäudes in der Siegener Fludersbach sollten zum Gedenkort werden. Das findet ein Zusammenschluss von vier Organisationen aus Siegen. Zu Zeiten des Dritten Reichs stand dort nämlich ein Hilfskrankenhaus für Zwangsarbeiter. Etliche starben vor Ort. Die Bodendenkmalpflege hat die Kellerräume jetzt als vermutetes Bodendenkmal eingestuft.
Um die 15.000 Zwangsarbeiter soll es in den frühen 40er Jahren im Siegerland gegeben haben. Der Zusammenschluss möchte die Kellerräume unter dem Kaufland-Gebäude als Gedenkstätte erhalten. Voraussetzung: Der Besitzer des Grundstücks spielt mit und die Kellerräume werden tatsächlich unter Denkmalschutz gestellt. Den Bau eines möglichen neuen Supermarktes wollen die Geschichtsfreunde mit ihrem Vorstoß nicht verhindern.“
Ein Positionspapier zur Bedeutung der Archäologie für die Erforschung der NS-Zeit aus Bayern und Österreich: https://archaeologik.blogspot.com/2024/07/das-gemeinsame-osterreichisch.html?m=1
Hinweis zur Literaturauswahl des Positionspapiers:
Hans Klappert: Leichen in Lebensmitteltransportern abgefahren. Erinnerung an die Zustände im „Hilfskrankenhaus Fludersbach“, in: Unser Heimatland 2001, S. 140
Gisela Schwarze: Kinder, die nicht zählten: Ostarbeiterinnen und ihre Kinder im Zweiten Weltkrieg, Essen 1997, S. 137
Raimund Hellwig: Siegen unter dem Hakenkreuz. Ein alternativer Stadtrundgang“, Siegen 2011, S. 51-53