„Knapp eine Million ehemalige polnische Zwangsarbeiter, Häftlinge und Kriegsgefangene lebten nach Ende des Zweiten Weltkriegs als sogenannte „Displaced Persons“ (DPs) in Sammelunterkünften in den westlichen Besatzungszonen. Ihnen widmet der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) unter dem Titel „Zwischen Ungewissheit und Zuversicht. Polnische Displaced Persons in Deutschland 1945 und 1955“ eine neue Ausstellung. Die zweisprachige Schau ist vom 17. Juni bis 30. Oktober im LWL-Industriemuseum Zeche Hannover in Bochum zu sehen.“
In Siegen bestanden in den ehemaligen Kasernen auf dem Heidenberg und dem Fischbacherberg DP-Lager, die auch ehemalige, polnische Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene beherbergten (weitereführende regionale Literatur s. u.)
„Die Geschichte der DPs ist ein bisher wenig beachtetes Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte. Unsere Ausstellung gibt erstmals einen umfassenden Einblick in den Alltag, die Kunst und die Kultur dieser ‚heimatlosen Ausländer‘, wie sie später genannt wurden. Sie haben trotz der herrschenden Knappheit und Ungewissheit über ihr weiteres Schicksal ein bemerkenswertes und vielfältiges Kulturleben in den Camps und Lagern entwickelt“, sagte LWL-Direktor Matthias Löb am Dienstag (14.6.) in Bochum.
Mit Dokumenten, Fotos und Videointerviews wirft die Ausstellung ein Licht auf dieses kaum bekannte Stück deutsch-polnischer Geschichte. Löb: „Wir stellen die Menschen nicht als passive Opfer der Geschichte, sondern als aktive Menschen, die in den vorgegebenen Grenzen ihr Leben gestalteten, in den Vordergrund.“ Die Ausstellung des LWL-Industriemuseums nimmt genau diesen Blick ein: „Es ist beachtlich, mit welcher Energie, Effizienz und Kreativität die in den Camps und Lagern festsitzenden Menschen ihren Alltag organisierten, Komitees, Organisationen und Netzwerke ins Leben riefen und ihr Leben mit allen Mitteln der Kunst gestalteten“, sagte der LWL-Direktor. So fanden bereits 1945 erste Kunstausstellungen statt, die von der Landschaftsmalerei bis zur Verarbeitung des Schreckens der Konzentrationslager eine beachtliche Bandbreite zeigten.
„Die Ausstellung ist äußerst aktuell: Viele Deutsche standen den DPs damals distanziert gegenüber. Überkommene Stereotype und Bewertungen als ‚minderwertige Menschen‘ hielten sich auch nach Kriegsende hartnäckig. Berichte über Kriminalität verstärkten die Ablehnung“, erklärte Löb weiter. „Diese beunruhigende Entwicklung kennen wir aus der aktuellen Flüchtlingsdiskussion. Hier kann jeder Besucher aktuelle Bezüge entdecken.“
Dirk Zache, Direktor des LWL-Industriemuseums, hob die Zusammenarbeit mit ehemaligen polnischen DPs hervor: „Dem Ausstellungsteam ist es gelungen, Zeitzeugen zu finden, die mit ihren Erlebnissen, Erinnerungen und Leihgaben die Präsentation mitgestaltet haben“. Dabei spannt sich der Bogen über mehrere Generationen und zeigt damit auch die unterschiedlichen Formen von Erinnerung und Tradition.
Bereichert wurde das Projekt auch durch die Kooperation mit der „Porta Polonica“, der beim LWL-Industriemuseum angesiedelten und vom Bund finanzierten Dokumentationsstelle zur Geschichte und Kultur der Polen in Deutschland. Zache: „So konnten die vielfältigen und verschlungenen Migrationswege in den Blick genommen und die Perspektive auf ganz Deutschland gerichtet werden. Auch Bezüge nach Polen und in die Auswanderungsländer stellte unsere Dokumentationsstelle her.“
Hintergrund
Schätzungsweise elf Millionen Männer und Frauen, die unter Zwang nach Deutschland gebracht worden waren, hielten sich bei Kriegsende in Deutschland auf. Innerhalb von nur fünf Monaten kehrten rund neun Millionen von ihnen in ihre Heimat zurück, darunter fast alle Menschen aus der Sowjetunion. So waren es im Oktober 1945 vor allem Menschen aus Polen und den baltischen Staaten, die noch in den Sammellagern in Deutschland festsaßen. Nicht nur der einsetzende Winter verhinderte die Rückführung. „Viele von ihnen scheuten die Rückkehr, da ihre Heimatländer von der Sowjetunion besetzt waren oder von kommunistischen Regierungen beherrscht wurden, die ihre politischen Gegner mit Gewalt unterdrückten“, erklärt Ausstellungskurator und LWL-Museumsleiter Dietmar Osses.
Über zehn Jahre lang haben Militärbehörden, Hilfsorganisationen und Verwaltungen nach Kriegsende versucht, in einem Wechsel von Fürsorge und Druck Perspektiven für die Menschen zu entwickeln. Zunächst stand die Unterbringung und Versorgung im Mittelpunkt: In einzelnen Fällen wurden Häuser, Straßenzüge oder wie in Haltern ganze Stadtteile von den Alliierten requiriert, um DPs darin unterzubringen. Osses: „Die Kleinstadt Haren im Emsland ließ man komplett räumen. Sie wurde für drei Jahre eine polnische Stadt und bildete das Zentrum der polnischen Besatzungszone in Deutschland.“
Trotz vielfältiger und aufwendiger Programme lebten Mitte der 1950er Jahre noch gut 100.000 der ehemals eine Millionen polnischen DPs in Deutschland. Für sie schufen die Landesregierungen, allen voran Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen, in großen Bauprogrammen eine dauerhafte Bleibe, um die Jahre des Lagerlebens zu beenden. „Manche dieser Siedlungen tragen heute noch lebendige Spuren des polnischen Lebens in sich“, weiß Museumsleiter Osses.
Förderer
Gefördert wurde die Ausstellung durch die Beauftrage für Kultur und Medien der Bundesrepublik Deutschland und mit Mitteln des NRW-Ministeriums für Arbeit, Integration und Soziales. Archive und Museen im In- und Ausland haben die Ausstellung unterstützt. Auch der Bund der Polen in Deutschland hat als Partner der „Porta Polonica“ mit vielfältigen Kontakten und Leihgaben zum Gelingen beigetragen.
Katalog
Zwischen Ungewissheit und Zuversicht. Polnische Displaced Persons in Deutschland 1945-1955.
Hg. LWL-Industriemuseum, Dietmar Osses, 222 Seiten, Klartext-Verlag, Essen 2016, 19,95 Euro“
Quelle: Pressemitteilung LWL 14.6.2016
Literatur zu den Siegener DP-Lagern:
Herbert Bäumer: Von der Wehrmacht zur belgischen Garnison. Der Militärstandort Siegen in §Wort und Bild, Siegen 2001, S. 38 – 40
Adolf Müller (Hg.): Krieg und Elend im Siegerland. Das Inferno an der Heimatfront in den 40er Jahren, Siegen 2001 (3. Aufl.)
Ulrich F. Opfermann: HeimatFremde. „Ausländereinsatz“ im Siegerland 1933 bis 1945: wie er ablief und was ihm vorausging, Siegen 1991
Dieter Pfau/Heinrich Ulrich Seidel (Hg.): Nachkriegszeit in Siegen 1945 – 1949. Flüchtlinge und Vertriebene zwischen Integration und Ablehnung, Siegen 2004, S. 16 – 65
Dieter Pfau (Hg.): Kriegsende 1945 in Siegen. Dokumentation einer Ausstellung, Bielefeld 2005, S. 175 – 178
Die Suche im DP-Camp-Verzeichnis des Internationalen Suchdienstes in Arolsen (ITS) ergab Hinweise auf folgenden Quellen:
ITS: Suchlisten zu Siegen, Dok-ID: 82028887-82028895, (82028890#1 [PDF])
Stadtarchiv Siegen: Bestand Siegen E, Nr. 1, 1463, 1961-1962, 2381: Berichte der Militärregierung, Unterbringung der DPs in Kaserne
Hinzuweisen wäre für die westfälische Perspektive auch auf meine Publikation: https://www.lwl.org/LWL/Kultur/HistorischeKommission/publikationen/2005/displaced-persons sowie für das benachbarte Rheinland http://www.brauweiler-kreis.de/geschichte-im-westen/geschichte-im-westen-2003-2/
Darin enthaltene Statistiken sind in der Regel für Westfalen bzw. NRW gemacht und beinhalten damit auch Siegener Zahlen (auch wenn sie in den Veröffentlichungen wegen des abweichenden regionalen Zuschnitts ungenannt bleiben); somit können mit beiden Publikationen auch die Signaturen des Quellenmaterials (in der Regel aus dem UN-Archiv New York, NARA Washington D.C. und National Archives (früher: Public Record Office) Kew/London gefunden werden.
Sofern DP-Lager in Siegen länger als bis 1946 bestanden, lohnt auch eine Recherche im Landesarchiv NRW, Abt. Rheinland (vor allem Bestand NW 0067: http://www.archive.nrw.de/LAV_NRW/jsp/bestand.jsp?archivNr=185&tektId=5803&expandId=5790).
Falls es im Siegerland auch Beispiele gab, wo Deutsche ihre Privathäuser räumen mussten, ist auch noch folgender Aufsatz interessant: Stefan Schröder, DP-Lager in requirierten deutschen Straßenzügen, Vierteln und Ortschaften. Ein Beitrag zur Systematisierung dieser Sonderform der Unterbringung von Displaced Persons, in: Sabine Mecking/Stefan Schröder (Hrsg.), Kontrapunkt. Vergangenheitsdiskurse und Gegenwartsverständnis, Festschrift für Wolfgang Jacobmeyer zum 65. Geburtstag, Essen 2005, S. 113-126.
Vielen Dank für die weiteren Hinweise! Wäre schön, wenn Ihr Band bald in der digitalen Reihe der Historischen Kommission erscheinen könnte.
Dazu bin ich noch nicht gefragt worden. Aus meiner Sicht spricht – bis auf nötige Urheberrechtsklärungen der enthaltenen Abbildungen – nichts dagegen.