Die Chiffre „1933“ findet seit Jahren vor allem für den asynchronen Vergleich im Kontext politischer Debatten Verwendung; als aktueller geschichtswissenschaftlicher Untersuchungsgegenstand dient sie dagegen eher selten. Auch aus diesem Grund nimmt Band 73 der „Westfälischen Forschungen“ die von den Nationalsozialisten selbstinszenierte „Machtergreifung“ gezielt in den Blick. Bewusst wird diese jedoch als längerer Zeitraum verstanden, der auch die Jahre vor und nach der Machtübernahme umfasst – als „langes“ Jahr 1933 in begrifflicher Anlehnung an Eric Hobsbawm. In regional vergleichender Perspektive werden die Machtdurchsetzungsprozesse am Beispiel verschiedener kollektiver Akteure und ihrer Anpassungs-, Ausweich- oder Konfrontationsstrategien gegenüber der sich etablierenden NS-Herrschaft untersucht.
Vorstellungen vom alternativlosen Zwangscharakter staatlicher Maßnahmen im Nationalsozialismus wurden und werden dabei deutlich relativiert. Skepsis, Partizipation und Mitwirkung im NS-System erwiesen sich in der gesellschaftlichen (auch regionalen) Wirklichkeit als differenzierte Vorgänge: Nahmen etwa Vereine, Behörden und andere Institutionen den (anstehenden) Machtwechsel als Chance oder als Bedrohung wahr? Worauf bezogen sich Aufbruchphantasien oder Krisenszenarien, wie wurden Erwartungshaltungen geformt und Handlungszwänge erzeugt? Ausgehend von diesen Fragen unternehmen die Beiträge des Bandes den Versuch, die allmähliche Durchsetzung der NS-Machtstrukturen regionalgeschichtlich und aus der „Eigenlogik“ der Akteure heraus aufzuzeigen.
Weitere Beiträge behandeln den Themenkomplex „Kinderverschickung und Kinderkuren nach 1945“, Überlieferungs- und Digitalisierungsaspekte des Lemgoer Urkundenbestandes, das Problem der Loyalitätssicherung in Westfalen in der Zeit der napoleonischen Herrschaft und die Erträge, die sich aus neueren Editionen der Briefe Mathilde Franziska Annekes gewinnen lassen. Ein Tagungsbericht zur Konzeption von Stadtgeschichten kleinerer und mittlerer Großstädte nach 1945 sowie eine Zeitschriftenschau und die Buchbesprechungen runden den Jahresband 2023 ab.
Inhalt des 73. Bandes:
Philipp Erdmann/Sabine Mecking: Das lange 1933. Forschungen und Perspektiven zur nationalsozialistischen Machtdurchsetzung in der Region
Markus Köster/Malte Thießen: „Machtergreifung“ in der Nahaufnahme. Inszenierungen der „neuen Zeit“ in westfälischen Filmen der 1930er Jahre
Silke Fehlemann: Hass als Strategie. Die Schmähung demokratischer Politiker im Rheinland und in Westfalen im Übergang von der Weimarer Republik zum Nationalsozialismus
Daniel Schmidt: Machtfaktor Polizei. Die preußische Schutzpolizei in Westfalen und der nationalsozialistische Griff nach der Macht (1932-1934)
Annika Hartmann/Jan Neubauer: Krise und nationalsozialistischer ‚Aufbruch‘. Die Stadtverwaltungen Münster und München im ‚kurzen Jahr 1933‘
Lutz Vogel: Rechts und links gegen die Provinz. Die Erosion der parlamentarischen Kultur in den Provinziallandtagen von Westfalen und Hessen-Nassau am Ende der Weimarer Republik
Martin Göllnitz/Rainer Pöppinghege: Frontabschnitt Hochschule. Nationalsozialistische Machtdurchsetzungsprozesse an den Universitäten Kiel und Münster auf studentischer Ebene (1926-1936)
Sarah Thieme/Martin Belz: Wenn die Nationalsozialisten ans Ruder kommen, ist der Bürgerkrieg unvermeidlich“. Vom Ringen der katholischen Arbeitervereine mit der nationalsozialistischen Machtdurchsetzung in den Diözesen Münster und Mainz
Wolfhart Beck: Protestantisches Milieu und Nationalsozialismus im langen Jahr 1933. Westfälische und württembergische Gemeinden im Vergleich
Julia Paulus: Der Katholische Deutsche Frauenbund in Westfalen im Widerstreit mit seinen Konkurrenten und Gegnern im langen 1933
Günter Sowa: Die Deutsche Post für Holland. Eine katholische Wochenschrift zwischen Distanz und Anpassung gegenüber dem Nationalsozialismus (1932-1934)
Barbara Stambolis: Heimatverein, Schießsport oder religiöse Bruderschaft. Konflikte um Wertorientierungen im langen 1933 in rheinisch-westfälischen Schützenvereinen
Lorenz Peiffer/Henry Wahlig: (Selbst-)Gleichschaltung und „Arisierung“ der Sportvereine in Westfalen im langen 1933
Yvonne Wasserloos: Spielräume 1926 bis 1936. Fritz Berend an den Theatern in Münster und Osnabrück
KINDERVERSCHICKUNG UND KINDERKUREN – ÜBERLIEFERUNG UND REKONSTRUKTION
Jens Gründler/Jonathan Schlunck: „Kinderverschickung“ und Kinderkuren in der Aufarbeitung. Probleme und Perspektiven in der historischen Forschung
Hans-Jürgen Höötmann/Stefan Schröder: Kommunales Archivgut zu Kinderverschickungen in Westfalen-Lippe. Aspekte der Überlieferung und Nutzung
Marcel Oeben: Praktikumsberichte als Quellen zu „Verschickungsheimen“ und Kinderheimen – ein Schulbestand im Stadtarchiv Lemgo
Jens Gründler/Jonathan Schlunck: Kontrollverluste? Die Kurheimaufsicht in Westfalen zwischen 1945 und den 1960er Jahren
WEITERE BEITRÄGE
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Gerhard E. Sollbach:
Herrschaftswechsel und Loyalitätssicherung. Das politische Schicksal westfälischer Landesteile in napoleonischer Zeit
TAGUNGSBERICHT
Pia Kleine:
Jenseits der Metropolen. Stadtgeschichte(n) von Mittelstädten und (kleineren) Großstädten 1945 bis heute
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Quelle: Verlagswerbung