Münster 2021, ISBN 978-3-87023-463-8
Westfalen gilt als ausgeprägte Adelsregion. Mit der Auflösung der ständischen Gesellschaft um 1800 verloren die Adeligen an Macht und Privilegien. Die einzelnen Etappen zeichnet das Buch „Der lange Abschied von der Macht. Adel in Westfalen 1800 – 1970“ nach, das der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) jetzt herausgegeben hat.
„In Westfalen gibt es eine Besonderheit: Der Adel war konfessionell gemischt. Es trafen nicht nur die standesherrlichen Familien und der Stiftsadel aufeinander, sondern auch der protestantische und preußische Beamtenadel sowie die aus der städtischen Geschäftswelt aufgestiegene geadelte Oberschicht“, sagt Horst Conrad, Autor des im LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte erschienen Bandes. Die Basis des adeligen Elitedenkens im 19. Jahrhundert war die Verwurzelung des Standes in der Grundherrschaft. Die Herrschaft über den Grund und Boden legitimierte die Herrschaft über Menschen. Die endgültige Auflösung der Grundherrschaft in Westfalen ab Mitte des 19. Jahrhunderts nahm der Adel deshalb als Verlustgeschichte wahr. „Die Abwehrhaltung gegen den einsetzenden Elitenwandel in der modernen Gesellschaft war vor allem am Besitz von Grund und Boden ausgerichtet“, betont Conrad. „Der vorherrschende Eliteanspruch der Aristokratie vertrug sich in keiner Weise mit der Demokratisierung seit der Französischen Revolution“, so der Historiker und Archivar weiter.
Es gelang dem westfälischen Adel nicht, den Elitegedanken an die bürgerlich-industrielle Gesellschaft anzugleichen. Mit der Gründung der Weimarer Republik 1919 nach dem Ende des Ersten Weltkriegs dominierte die antidemokratische Stimme des Adels. Der Adel konnte aber seinen aus dem Elitekonzept abgeleiteten Anspruch, die national konservative Führung in der Krise der Republik zu übernehmen, nicht mehr umsetzen.
Für die Zeit des Nationalsozialismus sieht die Forschung kein einheitliches Bild des Adels: Auf der einen Seite galt er als Steigbügelhalter des Nationalsozialismus. Auf der anderen Seite wurde das Standesethos hervorgehoben als ein Kern des Widerstands vom 20. Juli 1944 – dem Attentat von einer Gruppe um Claus Schenk Graf von Stauffenberg auf Adolf Hitler. „Das nationalsozialistische System akzeptierte der Adel in Westfalen spätestens seit der Präsidialdiktatur zwischen 1930 und 1933 als Krisenlösung. Nicht wenige Adelige traten der NSDAP bei. Man nahm es hin, dass das bisher herrschende monarchische Prinzip durch das Führerprinzip ersetzt wurde“, erläutert Conrad.
Das Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 erlebte der Adel erneut als Sturz aus großer Höhe. „Durch Flucht- und Vertreibungserfahrungen wurden Adelige selbst Teil der Zusammenbruchsgesellschaft“, so Conrad. Das politische Elitekonzept verlor sich jedoch in der Bundesrepublik Deutschland. Die Integration in die Mehrheitsgesellschaft ließ sich nicht aufhalten. „Doch der Anspruch einer Aura des Besonderen bleibt nicht zuletzt in den Wahrnehmungen der Außenstehenden bis heute bestehen“, hebt Conrad hervor.
Quelle: LWL, Pressemitteilung, 27.8.2021
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