Siegen-Wittgenstein Anfang des 19. Jahrhunderts: 1816 leiden die Menschen unter einer Hungersnot. Getreide ist knapp, die Brotpreise steigen ins Unermessliche – nicht nur die Siegerländer und Wittgensteiner machen aus der Not eine Tugend: Die ungeliebte Kartoffel ersetzt Roggen und Weizen: Das Kartoffelbrot – der „Riewekooche“ – erblickt das Licht der Welt! Nur eine Geschichte, die das Leben in der Region vor 200 Jahren beschreibt.
Geschichte lebendig werden lassen
„Wir können uns heute gar nicht mehr vorstellen, wie die Menschen damals gelebt haben“, sagt Paul Breuer, der Vorsitzende des Heimatbundes Siegerland-Wittgenstein e.V. Von damals gibt es keine Fotos und keine Filmaufnahmen, höchstens ein paar Gemälde oder Strichzeichnungen. Aber selbst diese können wir heute kaum noch richtig verstehen: „Denn ein alter ausgemergelter Mann auf einem Gemälde war längst nicht so alt, wie wir vermuten – und er wurde wahrscheinlich auch gar nicht so alt, wie er uns erscheint. Die harte Arbeit in den Erzbergwerken, in der Landwirtschaft, in der Köhlerei oder auch alles zusammen hat ihn einfach gezeichnet“, erzählt Paul Breuer: „Die gute alte Zeit hat es nie gegeben!“.
Gemeinsam mit Landrat Andreas Müller hat der Vorsitzende des Heimatbundes jetzt das Programm des „Historischen Marktes“ am Pfingstsamstag und -sonntag rund um die Ginsburg vorgestellt. Die Idee des Marktes ist es, die Zeit vor rund 200 Jahren wieder lebendig werden zu lassen. Deshalb laden Heimatbund, Heimatvereine und zahlreiche weitere Mitwirkende quasi zu einer Zeitreise ein.
Heimatvereine prädestiniert, unsere Geschichte zu präsentieren
Andreas Müller dankte dem Heimatbund und allen Mitwirkenden für dieses Projekt im Rahmen des Jubiläums „200 Jahre Kreise Siegen und Wittgenstein“: „Bei solch einem Geburtstag ist die Beschäftigung mit der eigenen Geschichte natürlich ein ganz wesentlicher Eckpfeiler“, betont der Landrat: „Die Heimatvereine und der Heimatbund sind mit ihrem Erfahrungsschatz, dem Wissen um Traditionen und dem Fundus an alten Geräten einfach prädestiniert, unsere Geschichte im Rahmen des Kreisgeburtstages zu präsentieren“, unterstreicht Müller. Dass der Historische Markt zeitgleich mit KulturPur stattfindet, ist aus Sicht das Landrates ein Gewinn: Denn alle Besucher haben dann die Möglichkeit an einem Wochenende, an einem Ort, zwei verschiedene Veranstaltungen erleben zu können.
Ausstellung in der Burg und im Burggraben
Im Burggraben rund um die Ginsburg werden 18 Pagodenzelte stehen, 27 Aussteller werden sich insgesamt präsentieren. Sie zeigen das Haubergswesen, Land-, Milch- und Forstwirtschaft, Erz- und Schieferabbau, eine alte Feldschmiede und den Arfelder Hammer. Und weil auch die Textilindustrie in der Region eine Bedeutung hatte, gehören die Arbeit an Webstuhl und Spinnrad ebenfalls zum Erlebnisprogramm.
Im Turm der Ginsburg sind eine alte Schulstube, eine Amtsstube, ein Schiedsamt und die Polizei zu sehen – auf dem Außengelände zudem die historische Feuerwehr. Denn vor 200 Jahren gab es zwar viele Feuersbrünste, aber Feuerwehren, wie wir sie heute kennen, wurden erst mit der Reichsgründung ins Leben gerufen.
Auch kulinarisch können die Besucher des historischen Marktes in das 19. Jahrhundert eintauchen: Unter dem Motto „Vom Korn zum Brot“ bieten Heimatvereine Backesbrot und „Riewekooche“ an, außerdem werden ganz frische „Schmatzbäckel“ gebacken. Und zur besten heimischen Tradition gehört auch Saft aus Siegerländer und Wittgensteiner Äpfeln, der eigens zum Jubiläum abgefüllt wird. Imker runden mit Honig ihrer Bienen das kulinarische Angebot ab.
Programm Heimatbühne
Zusätzlich zur Ausstellung gibt es auch eine Heimatbühne mit 15 Programmpunkten: Ein ökumenischer Gottesdienst macht am Samstag um 14:00 Uhr den Auftakt. Die offizielle Eröffnung des Historischen Marktes durch Paul Breuer und Andreas Müller findet dann ab 14:30 Uhr statt. Das weitere Programm bietet eine große Bandbreite: von Kinderchören über Jagdhornbläser bis zur Rentnerband. Die Wittgensteiner Kultband Bogga wird am Sonntag um 14:00 Uhr den Auftakt machen – gemeinsam mit Kindern des Familienzentrums Blauland (Raumland) – in Wittgensteiner Platt. Aber auch andere Mundarttexte gibt es zu hören und historische Nachtwächter, ein Ausscheller und ein Hirte werden auf der Bühne erscheinen. Den Schlusspunkt setzt am Sonntag ab 17:20 Uhr das Stadtorchester Hilchenbach mit Unterhaltungsmusik.
Der Historische Markt ist an beiden Tagen, Pfingstsamstag und -sonntag, 3. und 4. Juni 2017, jeweils von 14:00 Uhr bis 19:00 Uhr geöffnet. Für Menschen mit Handicaps gibt es einen Fahrdienst des DRK vom Giller zur Ginsburg.
Quelle: Kreis Siegen-Wittgenstein, Pressemitteilung v. 7.5.2017
Kann man mal die Quelle benennen, aus der hervorgeht, dass das („Siegerländer“ !) Kartoffelbrot im Jahr 1816 ‚erfunden‘ wurde.
Da wir uns bereits im Zusammenhang mit einen kurzfristigen Publikationsprojekt die gleiche Frage gestellt haben, habe ich die Frage an den Heimatbund als Ausrichter der angekündigten Veranstaltung gerne weitergeleitet.
Wenn man wüßte, worauf Herr Burwitz hinaus will …
Ist denn das „Siegerländer [!] Kartoffelbrot“ nicht identisch mit dem gemeinen europäischen Kartoffelbrot, das lange vor 1816 „erfunden“ worden war?
Top, lieber Herr Kunzmann, natürlich, das gemeine europäische Kartoffelbrot wurde schon viel früher ‚erfunden‘. Aber das Artikelchen suggeriert doch, dass das „Siegerländer“ Kartoffelbrot, das echte, vulgo „Riewekooche“ in der Hungerkrise vor 200 Jahren geboren wurde. Also, welcher Gontermann. Harr, Müncker oder Flender oder auch Frau gleichen Namens hat das Wunderwerk zuerst gebacken?
Wenn man nur wüsste …
„Ungeliebte Kartoffel“? Im Zeitungsbericht von Bürgermeister Trainer für November 1816 kann nachgelesen werden, „bis auf diesen Tag sind nur allein in hiesiger Stadt 2961 Karren Cartoffeln eingebracht worden“. Da müssen ziemlich viel ungeliebte Kartoffelfelder bestellt worden sein, in einem Jahr, in dem fast nichts gewachsen ist und Anfang November aufgrund der Witterung noch immer „Cartoffeln im Felde stehen“.
Wenn man nur wüsste …
„Wir können uns heute gar nicht mehr vorstellen, wie die Menschen damals gelebt haben“, sagt der Vorsitzende des Heimatbundes und lädt ein, die Zeit vor rund 200 Jahren wieder lebendig werden zu lassen.
„Wenn man nur wüsste“ …
Fragen über Fragen.
… Und die Fragen nehmen kein Ende. Waren die witterungsbedingt unreif geernteten Kartoffeln denn überhaupt zum Backen geeignet oder meist nur als Viehfutter brauchbar? Zu klären wäre auch, ob in den 1816/17 im Siegerland bewährten Notrezepten für Ersatzbrote ausdrücklich von „Kartoffeln“ die Rede war oder ob Synonyme verwendet wurden, die ebenso gut oder noch wahrscheinlicher auf die Topinambur hindeuten (Erdbirne, Erdapfel u.a.). Die Terminologie der beiden Nutzpflanzen ist ja alles andere als eindeutig. Topinambur-Brot war nun allerdings auch keine Siegerländer Erfindung und ist ebenfalls schon vor 1816 belegt. Eine auf soliden Quellen basierende Kulturgeschichte des „Riewekooche“ darf mit Spannung erwartet werden.
Anlässlich des Historischen Marktes auf der Ginsburg am vergangenen Pfingstfest hat der Heimatbund Siegerland-Wittgenstein Broschüre zu den „Duffeln“ erstellt, die neben regionalen Kartoffelrezepten auch folgende
“ … Geschichte der Kartoffel in unserer Region“ enthält: „Nach der Entdeckung Amerikas um 1500 brachten die Spanier als erste die Pflanze von Peru und Chile mit nach Europa. Sie bezeichneten sie als „Trüffeln der Inkas“.
Johannes Matthäus (1563-1621), bis 1621 Professor der Arzneikunde in Herborn, pflanzte die erste Kartoffel, die er um 1615 aus England erhielt, in der Grafschaft Nassau. Er betrachtete sie als Zierpflanze und stellte sie in einem großen Blumentopf zur Schau vor das Fenster.
Johann Heinrich Jung-Stillung aus Grund berichtete in „Der Volkslehrer“ von 1784, dass seine Großeltern um 1716 etliche Kartoffeln von Wieder-täufern erhalten haben, vermutlich aus Lohe bei Kredenbach.
In Wittgenstein wurden 1726 zum ersten Mal Kartoffeln im Feld angebaut. 1765 und 1771 haben zehntpflichtige Bauern in Richstein und Winges-hausen Kartoffeln an den Grafen abgeliefert. Davon wurden auch etwa 50 – 60 Scheffel an das Kloster Grafschaft verkauft.
Friedrich der Große war es Mitte des 18. Jahrhunderts, der die Kartoffel in Preußen zum Volksnahrungsmittel machte. Damit begann der Siegeszug der Kartoffel auch in unserer Region. Dies könnte zumindest der Ursprung des Reibekuchenbrotes sein, das aus Frankreich vielleicht bedingt durch die Truppenbewegungen von Napoleon nach Nassau und somit in das Siegerland kam.
Im März 1805 wurde vorgeschlagen, die Keime der Kartoffel auszu-schneiden und diese als Setzkartoffel zu benutzen.
Durch einen Vulkanausbruch im April 1815 wurde eine globale Klimaver-änderung in Nordamerika und Europa hervorgerufen. Es kam zu Missernten und einer schlimmen Hungersnot. Wahrscheinlich ist es, dass in den darauf folgenden Hungerjahren 1816/17 die Kartoffel zum Hauptnahrungsmittel wurde und deshalb auch Reibekuchen gebacken und vielfältige andere Rezepte mit Kartoffeln ausprobiert wurden. ….“
Und inwiefern hilft die Fleißarbeit der Heimatbündler nun Herrn Burwitz bei seiner eingangs aufgeworfenen Suchanfrage nach der Quelle weiter?
Bei Jung-Stilling hätte man noch mehr finden können als den aus dem Zusammenhang gerissenen (und wohl nur irgendwo in der Sekundärliteratur aufgeschnappten) Hinweis auf die Wiedertäufer. Im „Volkslehrer“ (1784, 8. Stück, Seiten 484-500) widmete er sich ausführlich diesem Gemüse. (Zu dessen Anbau durch seine Großeltern ab 1716 siehe dort S. 486.) Auf der letzten Seite (500) empfahl er die Kartoffel dann auch zum Brotbacken.
Ergänzend läßt sich ein ganzseitiger Beitrag zur „Bereitung des Mehles von Kartoffeln“ in den Dillenburgischen Intelligenz-Nachrichten, 41. Stück vom 16.10.1790, Sp. 663-664 anführen.
Ob der Heimatbund etwas für „wahrscheinlich“ hält, ist irrelevant, solange er dafür keine Begründung gibt. (Oder kommt die nach den drei Pünktchen noch?) Die hier aufgeworfene Frage nach Quellenbelegen für die Kartoffelnutzung 1816/17 in den Kreisen Siegen und Wittgenstein bleibt trotz der Publikation des Heimatbundes aktuell.
In Dieter Pfaus „Kreisgründungen Siegen & Wittgenstein. 1816-17 im Jahr ohne Sommer“, Siegen 2017 – Herausgeber ist übrigens der Heimatbund Siegerland-Wittgenstein -, verweist auf S. 10-11 auf das Kartoffelbrotpatent des Fürsten Friedrich Carl zu Sayn-Wittgenstein-Hohenstein, bestätigt von der Regierung in Arnsberg am 14. Oktober 1817.
Das Patent ermöglichte die Verringerung der Herstellungskosten von Kartoffelbrot.
In Dieter Wessinghages „Die Hohe Schule zu Herborn und ihre Medizinische Fakultät 1584-1817-1984, Stuttgart 1984, findet sich auf S. 35 (Eintrag zu Johannes Matthaeus) folgendes: “ …. Die Westerwaldbauern begannen erst um 1730 mit dem Anbau dieser aus der Neuen Welt stammenden Pflanze [Anm.: Gemeint ist die Kartoffel]. So kam es, daß seinerzeit die Knolle höchstens auf den Tisch der Adligen kam. ….“
Fazit: Eine Forschungsarbeit in den Adelsarchiven (Nassau-Siegen, Oranien-Nassau, Sayn-Wittgenstein-Berleburg, Sayn-Wittgenstein-Hohenstein) scheint zur Klärung der aufgeworfenen Frage wohl unumgänglich.
Wo ist denn besagte Schrift zu den Kreisgründungen zu erhalten? Emsiges Googeln erbringt nur den Hinweis auf den abgelaufenen ‚Historischen Markt‘ auf der Ginsburg. Kann der am Jahr ohne Sommer 1816 (!) Interessierte die Schrift auch ohne Ginsburg-Besuch erwerben? Warum hat siwiarchiv uns das Werk vorenthalten?
1) Erhältlich wird diese Schrift bei der Geschäftsstelle des Heimatbundes Siegerland-Wittgenstein sein.
1a) Wenn ich es recht sehe, wird das Stadtarchiv Siegen ein Belegexemplar erhalten.
1b) Spätestens im Rahmen des Schriftentauschs wird es allen Archiven im Kreisgebiet bei unserer nächsten Arbeitskreissitzung zugänglich gemacht.
2) „siwiarchiv“ kann leider nicht alles ….. Die Vorstellung der Schrift war für heute vorgesehen gewesen. In Anbetracht der Diskussion um das Kartoffelbrot erschien mir der Hinweis allerdings angezeigt.
Aus den Lebenserinnerungen des Siegener Landrentmeisters Johann Adolf Schenck:
„Das Jahr 1816 war im Allgemeinen ein trauriges Jahr, denn es regnete unaufhörlich, alle Flüsse, Rhein, Main, Mosel, Lahn und Sieg überschritten nicht selten ihre Ufer. Die Ernte der Frucht und besonders der Kartoffeln war so gering, daß sie kaum das tägliche Bedürfnis bis Ende 1816 liefern konnte. Im Monat November wurde noch Frucht, Hafer und Roggen vom Felde gefahren, es war aber keine Frucht mehr, sondern nur Stroh und dies zum Theil schon verfault. […] An meinem Tische aß man nur Schwarzbrod, das wir mit dem Mehl der Erbsen, Dicken Bohnen und Linsen vermischen und backen ließen.“
(Siegerländer Heimatkalender1932, S. 61. Ich spare mir ausnahmsweise die kompletten bibliographischen Angaben.)
Vielleicht könnten die Vertreter der Kartoffelbrot-Jubiläums-Theorie doch endlich , wie es hier vor fast vier Wochen ernsthaft erbeten wurde, Quellen für die angebliche „Erfindung“ des heute beliebten und beim Bäcker erhältlichen Siegerländer Kartoffelbrotes vor exakt 200 Jahren offenlegen – oder aber sich anderenfalls dazu bekennen, dass ihnen die historischen Fakten eigentlich egal sind und sie nur einen Anlass zum Feiern gesucht haben. Geschichtsklitterung ist nicht verboten, aber man sollte dann wenigstens zu ihr stehen und die Phantasieprodukte nicht noch gedruckt für die Nachwelt konservieren.
Meine Herren Archivar und Kunzmann, nutzen Sie doch bitte den im deutschen Sprachraum üblichen Begriff Täufer anstelle von Wiedertäufer. Oder beziehen Sie damit irgendeine Position? Folgen Sie Reformatoren oder Reformatorinnen des 16. Jahrhunderts? Oder übersetzten Sie nur Anabaptists aus dem Englischen?
Tut mir leid, ich wollte Ihre Gefühle nicht verletzen. „Wiedertäufer“ steht wörtlich in dem erwähnten und 1784 im deutschen Sprachraum erschienenen Text von Jung-Stilling. Wenn ich mal wieder in die Verlegenheit komme, den Begriff zu zitieren, setze ich ihn in Gänsefüßchen und füge eine Fußnote mit der politisch korrekten Version hinzu. Die müßte dann natürlich lauten „Täuferinnen und Täufer“, sonst beschweren sich anschließend wieder die Frauenfunktionärinnen.
Lieber Herr Plaum,
1) vielen Dank für den Hinweis!
2) Es handelt sich lediglich um ein Zitat aus der Broschüre des Heimatbundes, und von daher nicht um meinen Sprachgebrauch.
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