Seitdem Archäologen mit neuen Funden bei Grabungen am Unteren Schloss in Siegen die Existenz einer Judengasse im 15. Jahrhundert zu belegen versuchen, war und ist die Skepsis unter den Stadthistorikern groß. Denn die erste schriftliche Erwähnung einer Judengasse stammt aus dem Jahr 1816: die oben gezeigte Karte.
Die Wahrheit liegt wie so oft vermutlich in der Mitte. Faszinierend ist, dass für den Historiker nur das existiert, was irgendwann mal irgendwo niedergeschrieben wurde. Dass sich nicht alles schriftlich tradiert haben kann, sollten gerade die aussondernden Archivare wissen. Genauso dürfen mündliche Überlieferungen, die sich in ein „kulturelles Gedächtnis“ gebrannt haben, nicht außer Acht gelassen werden. Würde man diese Schriftfixiertheit „der Historiker“ auf die Spitze treiben, müsste die gesamte schriftlose Urgeschichte verneint werden.
Welch bodenloser Unsinn! Nicht jeder frühe Vogel fängt zwangsläufig einen Wurm! Hier geht es nicht um „Schriftfixiertheit“, sondern darum, Ausgrabungsergebnisse an den tatsächlich vorhandenen Schriftquellen zu überprüfen, sonst haben wir nämlich eine „Spatenfixiertheit“. In diesem Zusammenhang empfehle ich dem Kommentator noch einmal die Lektüre des ersten Bandes der Siegener Beiträge (1996, Ausgrabungen in Siegen). Daran zeigt sich, zu welchen stadtgeschichtlich bedeutenden Erkenntnissen die fruchtbare Zusammenarbeit von Archäologen und Historikern führen kann. Im Übrigen lag es nie in meiner Absicht, einen ideologischen Gegensatz zwischen beiden Gruppen zu konstruieren.
Und was die Frühgeschichte angeht, da vertrau ich mal auf die Archäologen, denn sonst habe ich nichts. Aber warum sollte man schriftliche Quellen außer Acht lassen, wenn man sie denn hat?
Und jetzt rudere ich erst mal ein Stück zurück: Meine ‚Gedächtnisfixiertheit‘ hat mich verleitet, den Kommentar am Wochenende aus dem Stand ohne Überprüfung der Quellen zu schreiben. Genaueres Recherchieren in den Archivbeständen hat denn doch eine frühere Quelle für die „Judengasse“ ergeben. In einem Plan des Unteren Schlosses, der vermutlich auf 1802 zu datieren ist, wird diese erstmals erwähnt. Er zeigt aber auch, dass die Judengasse eben nicht da eingezeichnet ist, wo die Archäologen graben. Punktum.
1. Dass die Wahrheit vermutlich in der Mitte liegt und manch ein Historiker einen papiernenen Tunnelblick besitzt, ist sicherlich kein „bodenloser Unsinn“. Mein Kommentar war allgemein gehalten und lediglich Anreiz für jeden, eigene methodische Vorgehensweisen zu hinterfragen.
2. Ich bin bei Ihnen, wenn es darum geht, dass Historiker und Archäologen mehr zusammen arbeiten sollten. Immerhin wird ein und die selbe Vergangenheit erforscht.
3. Einen „ideologischen Gegensatz zwischen beiden Gruppen“ brauchen Sie ohnehin nicht mehr „konstruieren“. Die Historiker bekommen an den Universitäten gelehrt, die Archäologie sei eine reine Hilfswissenschaft. Umgekehrt sieht es nicht wesentlich anders aus. Ein Punkt, den aus zu beseitigen gilt.
4. Ihr Beispiel (Siegener Beiträge 1996) sowie etwa neuere Forschungen des mittelalterlichen Siegerländer Bergbaus zeigen zum Glück, dass es anders geht! Intensive Zusammenarbeiten zwischen Historikern und Archäologen bieten noch viel Potential, das es zu nutzen gilt.
Vollkommen richtig: „Dass die Wahrheit vermutlich in der Mitte liegt“ ist natürlich kein „bodenloser Unsinn“, sondern eine Plattitüde der ergreifendsten Schlichtheit. Der Rest BLEIBT Unsinn! Sich jetzt damit herauszureden, lediglich Anreiz schaffen zu wollen, „eigene methodische Vorgehensweisen zu hinterfragen“ ist Rückzug der billigen Art. Weitere Ausführungen erübrigen sich, zumal Sie mir in Ihren Punkten 2 bis 4 ja in meiner inhaltlichen Kritik grundsätzlich beipflichten. Für mich ist diese absolut überflüssige Diskussion hiermit beendet, es sei denn, Sie haben etwas Substantielles zu den von mir angesprochenen inhaltlichen Fragen beizusteuern.
Eins noch: Wenn anderen „Plattitüde[n] der ergreifendsten Schlichtheit“ vorgeworfen werden, gleichzeitig aber von „Nicht jeder frühe Vogel fängt zwangsläufig einen Wurm!“ gesprochen wird, dann ist genau dies z. B. ein Punkt, wo die eigenen methodischen Vorgehensweisen gerne hinterfragt werden dürfen. Da ich weder im Archiv sitze, noch irgendwelche Befunde/Funde kenne, gibt es nichts Substantielles und ich bin raus.
Zur archäologischen Fundlage s. Westfälische Rundschau v. 24.3.2015: “ …. Zwar habe sein Team „kein spezifisch jüdisches Fundmaterial“ entdeckt, „aber eindeutig eine Bauzeile gefunden“ – und das an eben jener Stelle, wo in einem alten Plan eine „Judengasse“ eingezeichnet sei. In diesem Fall sei „Übertragung das Naheliegende“. ….“
Für einige vielleicht interessant: Wenngleich kurz nach 1802/1806 datiert, finden sich in folgenden Archivalien vielleicht noch Hinweise auf frühere Belege für eine „Judengasse“:
Landesarchiv NRW Abteilung Westfalen
B 415, 1 Regierung Arnsberg – Domänenregistratur
3.7.7.3 Gebäude
0 III A Fach 107 Nr. 13 – Vermietung der Gebäude im unteren Schloss, Wittgensteiner Flügel halber Mond, Kutschenremise, Judengasse
Laufzeit : 1822 – 1829
Landesarchiv NRW Abteilung Westfalen
B 415, 1 Regierung Arnsberg – Domänenregistratur
3.9.8.3 Gebäude
0 III A Fach 137 Nr. 3 – Verkauf der sogenannten „Judengasse“ beim unteren Schloss zu Siegen
Laufzeit : 1822 – 1825
1816, nicht 1806 – Tippfehler.
Nachtrag:
Landesarchiv NRW Abteilung Westfalen
3.3.2.8 Domänenrentämter (Renteien)
Domänenrentamt Siegen
B 481 Si Domänenrentamt Siegen
Verzeichnungseinheiten
876 – Abbruch des Judengasse genannten Gebäudes im unteren Schloß zu Siegen und Verpachtung des Gartens
Laufzeit : 1822-1876
„des Judengasse genannten Gebäudes“ – ein Hinweis, dem wohl mal nachgegangen werden sollte!
Bezieht sich diese Archivalie auf die bereits hier zitierte Textstelle „Jedenfalls wurden die herrschaftlichen Gebäude am Unteren Schloss 1825 abgerissen, damit verschwand auch die Judengasse. Eine endgültige Klärung wird sich wohl nicht mehr finden lassen. ….” (Quelle: Klaus Dietermann: Jüdisches Leben in Stadt und Land Siegen,Siegen 1998, S. 15.)“? Hatte Herr Dietermann die Akte in den Händen oder könnten ihr noch neue Erkenntnisse entlockt werden?
Im Quellenverzeichnis Dietermanns ist dieser Aktenband nicht aufgeführt.
Gratulation zu den Quellennachweisen, denen nachgegangen werden muss! Diese decken sich zeitlich mit den Erkenntnissen aus hier vorliegenden Zeitungsberichten des 19. Jahrhunderts.
Inzwischen hat sich auch Stadtarchivar a.D. Friedhelm Menk der Sache angenommen und einen ersten Fund getätigt: „In dem hölzernen Vorgebäude an der Judengasse vor dem halben Mond in der 2ten Etage befindet sich …“ (Quelle: Landesarchiv Münster, Fürstentum Oranien-Nassau II D Nr. 3 „Inventarium von dem herrschaftlichen untern Schloß zu Siegen mit allen darin befindlichen Gebäuden aufgestelt im Julio 1785“) Full credits to him!
Neben der genannten Quelle könnten ferner die „benachbarten“ Archivalien im Landesarchiv noch interessant sein:
1776-1793
Bauten im Garten des Unteren und Oberen Schlosses zu Siegen
Bestellsignatur : Fürstentum Siegen, Oranien-Nassauische Behörden, Nr. II D 2
Altsignatur : Rentamt Siegen 40
1802
Inventar des Unteren Schlosses zu Siegen
Darin: Grundriß der Hälfte des Unteren Schlosses von 1789
Bestellsignatur : Fürstentum Siegen, Oranien-Nassauische Behörden, Nr. II D 5
Altsignatur : Rentamt Siegen 459,1
1783-1805
Bauerlaubnisse an fürstlichen Gebäuden, vornehmlich in Siegen
Bestellsignatur : Fürstentum Siegen, Oranien-Nassauische Behörden, Nr. II D 9
Altsignatur : Rentamt Siegen 1033
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