Tagebuch einer Bestandsaufnahme
Kassation = die Vernichtung von Unterlagen, die durch das Archiv als nicht archivwürdig eingeschätzt werden..
Aufgrund von Doppelung, d.h. es gibt Dokumente, die mehrfach den gleichen Inhalt abbilden, müssen auch aus diesem Bestand einige Unterlagen kassiert werden.
Im Bereich Finanzen/ Kasse sind einige Jahrgänge sowohl mit „Kontenkarten“, also der Auflistung von Ausgaben, z.B. für den Einkauf von Obst und Gemüse bei einem bestimmten Geschäft an einem bestimmten Datum als Summe, als auch mit der Sammlung der einzelnen Rechnungen belegt. Die Entscheidung ist gefallen, hier die Rechnungen zu vernichten. Zumal für einen anderen Jahrgang aufgrund von Fehlen der Kontenkarten dann der Rechnungsordner aufgehoben wird und damit auch Beispiel-Material für diesen Bedarf gegeben ist…
Da die zu vernichtenden Unterlagen sowohl personenbezogene als auch andere schutzwürdige Angaben (Geldbeträge) erhalten, dürfen solche Dokumente natürlich nicht einfach im Altpapier landen. Sie müssen in die Datenvernichtung. Dafür gibt es für das hiesige Archiv eine Datenvernichtungs-Tonne, die geschlossen sein muss und auch der Einwurf so konstruiert, dass niemand Zugriff hat.
Autorin: Dagmar Spies
Danke für den interessanten Artikel!
Das wäre wohl einer der Gründe, warum das wohl kein Job für mich wäre, auch wenn ich Archive recht interessant finde. Es fiele mir wohl zu schwer, Unterlagen zu entsorgen, ich hätte immer Angst, dass irgendwas dabei ist, wo sich später herausstellen könnte, dass es interessant oder wichtig ist. Da wäre das Archiv schnell voll. ;-)
Aber ist die große abgeschlossene Tonne nicht ein bisschen „overkill“? Datenschutz ist natürlich wichtig, aber es sind ja keine Staatsgeheimnisse, die darin entsorgt werden, sodass wohl eher nicht befürchtet werden muss, dass sich da jemand unberechtigterweise ein paar alte Rechnungen draus klaut. Selbst in Krankenhäusern, wo man ja durchaus mit sensiblen Patientendaten zu tun hat, habe ich bisher für solche Zwecke bestenfalls einfache Pappkartons mit passender Beschriftung gesehen.
1) Ja, die Bewertung von Archivgut ist die „Königsdisziplin“ des Archivierens, deren Ziel die möglichst dichte Überlieferung aller kommunaler Lebenswelten ist.
2) Die Tonne ist tatsächlich etwas „too much“, denn weder besonders schützenswerte personenbezogene Unterlagen, noch Unterlagen die noch einem Betriebsgeheimnis unterliegen wurden wohl vernichtet; so sprach für die Vernichtung in dieser Tonne: sie befindet sich im Gebäude des Kreisarchivs und stellt für alle enentuellen Fälle eine datenschutzkonforme Vernichtung dar.
Zu 1) Eine „Königsdisziplin“, bei deren Ausübung man aber auch nicht zu viel grübeln darf. Ist der Archivar phantasievoll genug, um zu jedem Blatt Papier ein potentiell mögliches Recherchethema zu imaginieren, für das gerade dieses Schriftstück unverzichtbar wäre, blockiert er sich selbst und kann ruhigen Gewissens überhaupt nichts kassieren. Wer würde seine Hand dafür ins Feuer legen wollen, dass nicht irgendwann ein Historiker und dank dessen Arbeit die Gesellschaft Nutzen aus den Einzelrechnungen über Obstlieferungen an die Heilstätte Hengsbach ziehen würde, die nun in der Mülltonne gelandet sind? Könnte nicht eine ganz unscheinbare Information auf einem dieser Belege gerade diesen künftigen Forscher – weil er sie mit anderen unscheinbaren Informationen in Verbindung bringen kann – zu unvorhersehbaren Fragen und Erkenntnissen führen – ein Zufallsfund mit weitreichenden Folgen? Wie viele Verbrechen blieben unaufgeklärt, wenn Kriminalisten nach dem Vorbild von Archivaren arbeiteten und bei der Spurensicherung nicht buchstäblich jede Faser eintüten sondern alles ignorieren würden, dessen Bedeutung für den Fall ihnen nicht auf der Stelle einleuchtete?
Archive sind keine idealen Rückzugsgebiete in dieser unvollkommenen Welt. Archivare lindern kein Elend und retten nicht die Menschheit. Wie jeder andere Zeitgenosse verzichten auch sie – vielleicht oder hoffentlich ein bißchen weitsichtiger – emsig auf den Erhalt von Informationen, und zwar insgesamt auf den überwiegenden Teil dessen, womit an den Schreibtischen dieser Welt Tag für Tag das geduldige Papier gefüllt wird. Für Archivare, die dem Wahn der prophetischen Unfehlbarkeit nicht erlegen sind, ist dies unbefriedigend, aber alternativlos. Deshalb kann die Arbeit in Archiven nur schicksalsergebenen und desillusionierten Menschen empfohlen werden.
(Übrigens nicht nur die Arbeit, sondern auch die Benutzung: Ein Archiv ist ein Konzentrat dieses irdischen Jammmertals, kein Schlaraffenland. Der Aspekt scheint mir bei all der archivpädagogischen Euphorie unserer Zeit übersehen zu werden.)
P.K.
„Ein Archiv ist ein Konzentrat dieses irdischen Jammmertals, kein Schlaraffenland.“ Sätze für die Ewigkeit – mit der Tastatur in Stein gemeißelt. Würde nicht der Autor selber einem radikalen Kassieren das Wort reden, man müsste den Kommentar allen Archiven dieser Welt zum ewigen Aufbewahren ins Stammbuch schreiben. Dank und nochmals Dank von einem
Schicksalsergebenen