Wissenschaftler*innen der Universität Siegen untersuchen in einem internationalen Forschungsprojekt, wie sich Bürger*innen im Staatssozialismus in Mittel- und Osteuropa eigene Freiräume schaffen konnten.
Ein Amateurfunker schaltet sein Funkgerät ein, richtet die Antenne aus und sendet über Kurzwellenfrequenz. Mit etwas Glück kann er so mit Hobbyfunkern aus aller Welt sprechen – auch über Staatsgrenzen hinweg, die scheinbar unüberwindbar waren. Ein kleiner Freiraum innerhalb der Ordnung, die während der Epoche der sozialistischen Regime im mittleren und östlichen Europa gegeben war. Im Rahmen des neuen Forschungsprojekts „Manövrierräume im Staatssozialismus“ untersuchen Wissenschaftler*innen der Universitäten Siegen und Warschau dieses Phänomen im Sozialismus.
Das Projekt ist im Mai 2016 gestartet und wird gemeinsam von der Professur für Europäische Zeitgeschichte seit 1945 an der Universität Siegen (Prof. Dr. Claudia Kraft) und dem Historischen Institut der Universität Warschau (Prof. Dr. Jerzy Kochanowski) durchgeführt. Die Zusammenarbeit des internationalen Projektteams wird auf deutscher Seite von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und auf polnischer Seite vom Nationalen Wissenschaftszentrum (NCN, Narodowe Centrum Nauki) gefördert.
Im Fokus stehen dabei die so genannten Volksdemokratien in der DDR, in Polen, Rumänien und der Tschechoslowakei. Ziel des Projektes ist die Identifizierung und Erforschung von „Manövrierräumen“, die auf die eine oder andere Weise in allen Ländern existierten. Auch andere Gruppen in sozialistischen Ländern hatten sich solche „Manövrierräume“ geschaffen: Esperantisten zum Beispiel, die über die Kunstsprache Esperanto international kommunizieren konnten. Oder Kleingärtner, die auf ihren Grundstücken selbstbestimmt Obst und Gemüse anbauten. Durch den Verkauf der Produkte wurde dabei zum Teil eine Art Schattenwirtschaft betrieben.
„Wir betrachten die Manövrierräume nicht als isolierte Sphären der Freiheit, in denen sich völlig autonome und selbstbestimmte Akteure ausleben konnten“, sagt die Siegener Forscherin Prof. Dr. Claudia Kraft und erklärt: „Für uns handelt es sich eher um geographische, gesellschaftliche oder institutionelle Räume, die sich aus unterschiedlichen Gründen der politischen Kontrolle entziehen konnten oder deren Existenz von der Politik mehr oder weniger bewusst zugelassen wurde.“
Die Forscher*innen wollen herausfinden, wie Ostdeutsche, Polen, Rumänen, Slowaken und Tschechen in der sozialistischen Realität klarkamen. Wie haben sie vorgegebene Normen übernommen, um sie erfolgreich für ihre Interessen zu adaptieren? Inwiefern waren die entstandenen „Manövrierräume“ Bestandteile der staatssozialistischen Ordnung und haben diese sogar stabilisiert? Neben besonderen Gruppen wie Amateurfunkern oder Kleingärtnern sollen dabei auch spezielle geographische Regionen betrachtet werden. Zum Beispiel die entlegene Bergregion der polnischen oder slowakischen Tatra mit ihren Eigengesetzlichkeiten. Aber auch moderne Industriestädte mit ihrer spezifischen Sozialstruktur wie das polnische Gdynia oder das tschechische Zlín.
Eines steht bereits fest: Die Sichtweise, dass sich in den sozialistischen Staaten in Mittel- und Osteuropa die Staatsmacht und die Gesellschaft in einen unablässigen Kampf gegenüberstanden, gilt als überholt. „Seit etwa fünfzehn Jahren warnen Historiker wie Soziologen vor einem einseitigen Schwarz-Weiß-Bild der jüngeren Vergangenheit in den Mittel- und Osteuropäischen Ländern“, erklärt Prof. Kraft. Im Bereich des alltäglichen Lebens, der politischen Aushandlungsprozesse, der Ökonomie und der Kultur habe es auch viel „grau“ gegeben. Diese großen Bereiche des alltäglichen Lebens lassen sich nicht in das simple Schema von Staatsmacht (Repression) und Gesellschaft (Widerstand) pressen.
Mit der Untersuchung der „Manövrierräume“ will das Forschungsprojekt daher einen wichtigen Beitrag zum Verständnis des Funktionierens der sozialistischen Gesellschaftsordnung leisten. Denn auch gut ein Vierteljahrhundert nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Regime im mittleren und östlichen Europa sind deren politische, ökonomische und kulturelle Hinterlassenschaften nicht verschwunden, sondern stellen weiterhin wirkmächtige Faktoren in den postsozialistischen Gesellschaften dar. Um gegenwärtige politische Verwerfungen und Verständigungsschwierigkeiten in jenen Ländern sowie in Europa besser verstehen zu können, bleibt die Erforschung der sozialistischen Epoche ein wichtiges Anliegen der Zeitgeschichtsschreibung.
Quelle: Universität Siegen, Pressemitteilung, 28.7.2016