In Stift Keppel – wie überall im Lande – nahmen nach der Jahrhundertwende 1899/1900 übersteigerter Patriotismus und Kriegsbegeisterung immer mehr zu. Die Keppelsche Schule war ganz ein Kind ihrer Zeit. Große Euphorie erweckte in Keppel kurz vor 1914 der Übungsflug eines Zeppelins. Der Pilot, Bruder einer Schülerin, machte Luftaufnahmen vom Stift! Wie war man da begeistert von der Überlegenheit deutscher Technik! Ein Krieg konnte nur siegreich für Deutschland ausgehen und würde sehr bald beendet sein.
Das bedeutete allerdings nicht, dass im Stift bei Kriegsausbruch eine ausländerfeindliche Stimmung geherrscht hätte. Eine junge Französin und eine Engländerin, die zur Unterstützung des Fremdsprachenunterrichts im Stift weilten und sich dort sehr wohl fühlten, weigerten sich, die neue Situation ernst zu nehmen und wollten eigentlich gar nicht abreisen: Sie meinten, sie kämen ja in einigen Wochen wieder – und deponierten ihre Sachen auf Keppels Dachboden. (Ob diese sich noch heute dort befinden, in abgelegenen Kammern?)
Interessant ist, wie die politische Stimmung der Zeit zunehmend Eingang in die Themen der Reifeprüfungsaufsätze fand: Im Jahre 1911/12 wurde ein Thema zu Eichendorffs Taugenichts als Werk der Romantik gestellt. 1913/14 aber lautete das Thema: „In welcher Weise ist durch unsere Klassiker das deutsche Nationalgefühl gestärkt worden?“ – und 1914/15: „Aber der Krieg lässt die Kraft erscheinen. Alles erhebt er zum Allgemeinen.“
„Das war ein Leben und eine Begeisterung!“ So charakterisierte eine ehemalige Internatsschülerin die überschwängliche Begeisterung der ersten Kriegsmonate. Die Preußenfahne und die deutsche Fahne wehten über den Dächern Keppels. Die Schülerinnen warfen durchfahrenden Soldaten Blumensträußchen zu. Mit Genehmigung der Frau Oberin (der Schulleiterin) schmückten sie ihre Zimmer mit schwarz-weiß-roten Fähnchen und patriotischen Postkarten; einige trugen auch Haarschleifen in den kaiserlichen Farben. Ansonsten war jedoch preußische Sparsamkeit angesagt: Bunte Schürzen ersetzten die weißen, die nur noch sonntags getragen werden durften.
Frau Oberin verlas den Heeresbericht mit Siegesmeldungen; die Glocken der Stiftskirche läuteten, zunächst noch alle drei, dann wurden zwei von ihnen abgegeben und für die Waffenproduktion eingeschmolzen. Der Stiftspfarrer hielt eine traurige, aber doch zugleich vaterländische Ansprache.
Bald gab es die ersten Meldungen über verwundete und gefallene Väter und Brüder. Frau Oberin und die Lehrerinnen versuchten zu trösten, so gut es ging. Im Stift trauerte man mit einer ehemaligen Lehrerin, die nach dreimonatiger Ehe ihren Mann, einen Major, in den ersten Augusttagen 1914 verloren hatte und ihren 1915 geborenen Sohn allein großziehen musste.
Die schulische Situation war kaum beeinträchtigt. Von den drei männlichen Lehrkräften wurde keiner eingezogen. Schlimmer war es am Hilchenbacher Lehrerseminar: Viele der dortigen Lehrer und Seminaristen starben den „Heldentod“ , wie man damals sagte.
Die Zeiten wurden härter, auch versorgungsmäßig. Schülerinnen, die von zuhause Esswaren zugeschickt bekamen, mussten diese abgeben, damit sie gleichmäßig verteilt werden konnten. Der Hunger war groß. Aber:
„Man wahrte Disziplin im Stift und wollte durchhalten allen Gewalten zum Trotz, auch bei
trockenem Brot und Steckrüben.“
„Die „Hilchenbacher Zeitung“ berichtete von „Kriegsabenden“, „Wohltätigkeitskonzerten“und Veranstaltungen des Hilchenbacher wohltätigen „Jungfrauenvereins“. An den letzteren nahm das Stift nicht teil; es entfaltete seine eigene Wohltätigkeit: Jede Klasse hatte ihren „Feldgrauen“, einen Soldaten, den sie betreute. Begeistert schrieb eine Kepplerin im Jahrbuch 1916/17:
„Es war etwas Größeres, was uns trieb. Wir Mädchen sind nun einmal begeistert für das Große
und Starke.“
Die Schülerinnen schickten ihrem Feldgrauen Briefe, strickten Strümpfe aus grauer Wolle und sandten ihm Päckchen mit Liebesgaben. Ein dankbarer Brief kam als Antwort – und das war jedesmal ein Fest.
Die traditionelle Verlosung von kleinen Geschenken zum 1.Advent – in Keppel eigentlich der Höhepunkt des Jahres – fiel fort. Stattdessen fuhr zu Weihnachten 1916 die ganze Schule mit dem Zug nach Siegen und kaufte unter Aufsicht der Lehrerinnen kleine, hübsche Geschenke für die Soldaten ein, vor allem Tabak und Süßigkeiten:
„Jedes Teil wurde sorgsam in weißes Seidenpapier gehüllt, mit schwarz-weiß-rotem Band verschnürt und mit einem Tannenzweig geziert.“
Die Stimmung war dabei durchaus ausgelassen. In Gedanken begleiteten die Mädchen „ihr Paketchen in den Schützengraben“. Ob sie sich vorstellen konnten, wie es dort zuging?
Die naive Begeisterung ist erschreckend, aber vielleicht auch verständlich: Zu viele Aufrufe an den Opferwillen der Jugend waren ergangen, Aufrufe zum Zeichnen von Kriegsanleihen, zum Kriegswahrzeichennageln zugunsten der Jugendspende für Kriegerwaisen. Auf „geschmackvollen Tafeln“ wurden gegen eine Geldspende Nägel eingeschlagen: Es ergab sich ein patriotisches Bild, etwa den „Kyffhäuser“: Nach dem Sieg sollten die Tafeln im Treppenhaus aufgehängt werden, aber dazu kam es nicht…
Nach den ersten Kriegsmonaten ebbte die Begegeisterung merklich ab, und auch die pathetischen Aufrufe hatten nach einiger Zeit viel von ihrer Wirkung verloren. Die angesetzten Sammelaktionen wurden als willkommene Abwechslung vom Schulalltag gesehen. Mit knurrendem Magen begaben sich die Schülerinnen klassenweise nach Lützel, um dort Blaubeeren oder Pilze zu suchen – zur Bereicherung des kärglichen Abendbrots im Stift, aber auch für die die Siegener Lazarette. Ausflüge fielen fast ganz fort. Stattdessen halfen die Mädchen in der Keppelschen Landwirtschaft und sammelten fleißig Eicheln und Laub in den Wäldern .
Die Säcke wurden in der Keppeler Turnhalle deponiert und zusammen mit Liebesgaben aus der Bevölkerung von den Stiftsdamenlehrerinnen an den „Vaterländischen Frauenverein Allenbach“ vom Roten Kreuz weiterleitet.
Keppel weiterhin eine Idylle? Für die jungen Mädchen blieb trotz der Erschütterung und des Leides, das vielen Familien widerfuhr und trotz der unzureichenden Ernährung doch ihre kleine, abgeschirmte Welt bestehen. Zur Freude aller gab es beim Friedensabschluss mit Russland einen schulfreien Tag. Im weitläufigen Treppenhaus stimmte man vaterländische Dankeslieder an.
Die Ehemaligen jedoch mussten sich in der harten Wirklichkeit behaupten: Sie schickten Berichte an ihre alte Schule für das Keppeler Jahrbuch, das selbstverständlich im Kriege mit einem schwarz-weiß-roten Rand versehen worden war. Sie schrieben zum Beispiel über ihren Einsatz als „Sommerlehrerin“ in der Lüneburger Heide und Pommern, wo Hunderte von ausgehungerten und unterernährten Kindern aus dem Ruhrgebiet über mehrere Wochen zusammen mit den einheimischen Dorfkindern in überfüllten Schulstuben unterrichtet wurden. Manche Ehemalige mussten sogar harte – und unweibliche – Kriegsarbeit verrichten, etwa als Munitionsarbeiterin oder Fabrikpflegerin. Auf brutale Weise wurde hier der vor dem Kriege häufig abgelehnte Ruf nach weiblicher Berufstätigkeit für die „höheren Töchter“ verwirklicht.
In den Kriegsjahren wurde weiterhin inbrünstig am 27.Januar der Geburtstag „unseres geliebten Kaisers“ gefeiert In der Stiftskirche lauschte man dem vom Chor vorgetragenen Gebet, das die Hohenzollern verherrlichte:
Vater im Himmel Du,
Schenke uns Friedensruh,
Wenn’s Dir gefällt
Doch wenn’s noch nicht kann sein
Fest bleibt auch Mann für Mann
Deutschland im Feld –
Gegen die Welt
Schütz‘ unser Zollernhaus
Im wilden Kriegsgebraus
Mit starker Hand.
Schirm unsern Kaiser gut
Schütze sein Erb und Blut
Und unser Land im Weltenbrand.
Zum Licht der Sonne klar
Schwingt sich der Zollernaar,
Siegesgewöhnt.
Hütet den heil’gen Hort,
Bis einst das sel’ge Wort
„Friede“ ertönt,
Lorbeergekrönt!
Der Schock des Zusammenbruchs traf Keppel tief. Noch im Jahrbuch 1917/18 hieß es: “ Wir sind ja dankbar dafür, auch ein klein wenig Kriegsarbeit leisten zu dürfen. Wäre die deutsche Jugend der Ruhmestaten, die unsere wackeren Krieger jetzt wieder auf Frankreichs Boden aufs neue vollbringen wert, wenn sie nicht gerne die Hände für die große Sache des Vaterlands regte?“
Das Jahrbuch 1918/19 aber vermeldete:“ Ein unendlich trübes Jahr liegt hinter uns….Vaterländische Trauer überschattet alles.“
Bei Kriegsende zogen zurückflutende Truppen durchs nördliche Siegerland und nahmen u.a. im Stift Quartier. Turnhalle und Schulkassen wurden geräumt und zum Massenquartier hergerichtet.
Und doch, bei aller Verzweiflung: Beim Nahen der Soldaten wurden Girlanden und Kränze gewunden. Am Bahnhof wurde eine Ehrenpforte errichtet. Die Stiftsschülerinnen trugen den Soldaten Volkslieder vor, und diese stimmten mit ein. Eine junge Ex-Kepplerin berichtete:
„Es war – so paradox es klingen mag – für uns junge eine herrliche Zeit. Wir waren nach vier harten Kriegsjahren so ausgehungert nach Freude und Erleben, und die Tragik des Geschehens wurde uns nicht bewusst…Wir tanzten mit den jungen Offizieren.“
Der Stiftsalltag nach Kriegsende brachte jedoch wahrhaft niederdrückende Erfahrungen:
Verursacht durch die schlechte Versorgungslage starben innerhalb weniger Tage drei interne Schülerinnen an der spanischen Grippe. Ein junge Keppeler Lehrerin wurde im Walde ermordet. Es waren harte, unsichere Zeiten.
Das 50jährige Anstaltsjubiläum (1921) wurde still begangen.
Über die Keppeler Schule zur Kaiserzeit schreibt eine Ehemalige: “ Wir wurden ganz in den Vorstellungen preußischer Offiziers-und Beamtentöchter erzogen. Die Monarchie schien die beste Staatsform zu sein, Heeresdienst die beste körperliche Ertüchtigung, die Schule der Nation, Krieg: Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln und unvermeidlich, sogar nötig, um aufzurütteln aus Bequemlichkeit und Eigennutz.“
Die Fragwürdigkeit solcher Ideale sei ihr erst sehr viel später – (1945!) – bewusst geworden. Sie betont aber auch, was sie der Schule alles zu verdanken habe: „Ordnung, Pünktlichkeit, Fleiß, Gründlichkeit. Kameradschaftlichkeit, solide Kenntnisse, Idealismus, rege Interessen. Das ist viel.“
Ein gelungener, runder Beitrag mit guten Illustrationen. Ließe sich der nicht noch weiter ausbauen und in die „Siegener Beiträge“ setzen?