Dr. Matthias Plaga-Verse sprach über den Siegerländer Pietismus
„Das Siegerland ist eine Welt für sich!“, mit diesem Zitat von Georg Michaelis, dem ehemaligen Reichskanzler und preußischen Ministerpräsidenten eröffnete Matthias Plaga-Verse seinen Vortrag zum Siegerländer Pietismus. Über 50 Zuhörer hatten sich kürzlich, noch vor dem Teil-Lockdown, im Evangelischen Gemeindezentrum der Kirchengemeinde Obersdorf-Rödgen eingefunden, um – coronabedingt warm eingepackt – mehr über die Wurzeln der besonderen Frömmigkeit im Siegerland zu erfahren. Eingeladen hatte die Erwachsenenbildung des Evangelischen Kirchenkreises Siegen. Sich mit der Geschichte des Pietismus im Siegerland zu befassen, sei nicht nur lohnend für Menschen mit einem heimatgeschichtlichen Interesse, so Heike Dreisbach, Leiterin der Erwachsenenbildung. Immerhin sei die persönliche Glaubenshaltung bei vielen hierzulande nach wie vor von der speziellen Spielart des Siegerländer Pietismus geprägt. Dies sowohl im positiven, als auch im negativen, im Extremfall sogar krankmachenden Sinne. Umso wichtiger sei es, die Hintergründe dieser Frömmigkeitstradition besser verstehen und reflektieren zu können.
Plaga-Verse selbst wuchs auf in einer pietistisch geprägten Familie im Sauerland. Nach dem Abitur studierte er Ethnologie, Religionswissenschaften und Volkskunde in Göttingen und arbeitete nach einem anschließenden Lehramtsstudium als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der von Prof. Veronika Albrecht-Birkner geleiteten „Forschungsstelle reformierte Theologie und Pietismusforschung“. Promoviert hat sich Plaga-Verse mit dem Thema „Neupietismus im Nationalsozialismus“.
Wesentlicher Meilenstein in der Geschichte des Siegerländer Pietismus sei die Gründung des „Vereins für Reisepredigt“ im Jahr 1853, der Vorläuferorgansiation des heutigen Siegerländer Gemeinschaftsverbandes. Während sich der Pietismus anderenorts überwiegend durch akademisch gebildete Pfarrer verbreitet habe, seien es im Siegerland vor allem Laienprediger gewesen, die von Dorf zu Dorf gezogen seien, um das Evangelium in den Hausversammlungen „schlichter Stundenhalter“ zu verkünden. Zu Anfang seien diese als „Konventikel“ bezeichneten selbstorganisierten Zusammenkünfte sowohl von Seiten kirchlicher, als auch staatlicher Autorität massiver Kritik ausgesetzt und teilweise auch verboten worden. Dass die pietistische Bewegung im Siegerland trotzdem überwiegend keine freikirchliche Entwicklung genommen habe, erkläre sich vor allem vor dem Hintergrund der konfessionell betrachtet reformierten Prägung der Region.
Im Laufe der Zeit sei der Pietismus im Siegerland derart stark verankert worden, dass dieser von vielen Gläubigen geradezu als „Normaltheologie“ verstanden worden sei. Letztlich habe man im Siegerländer Gemeinschaftsverband, ebenso wie deutschlandweit im kirchenkonformen Pietismus, ein Selbstverständnis entwickelt, das sich am treffendsten zusammenfassen ließe in einem Zitat des pietistischen Theologen Theodor Christlieb (1833 – 1889), man sei Gemeinschaft „in der Kirche und mit der Kirche, aber nicht unter der Kirche“.
Anhand von vielfältigen Quellenzitaten wies Plaga-Verse nach, dass der Siegerländer Gemeinschaftsverband neben dem kirchenkonformen immer wieder bewusst auch Impulse aus dem radikalen, eher separatistisch-kirchenkritisch orientierten Pietismus aufgenommen habe. Die daraus unweigerlich resultierende Spannung, die bis heute nachwirke, lasse sich vor allem sehr gut nachzeichnen anhand von Inhalten der nach wie vor erscheinenden Mitgliederzeitschrift „Der Evangelist aus dem Siegerland“.
Um den Pietismus Siegerländer Spielart besser verstehen zu können, sei es jedoch außerdem wichtig, auch die Auseinandersetzung mit der weltlichen Obrigkeit näher in den Blick zu nehmen. Diesem Forschungsansatz, so Plaga-Verse, sei er im Rahmen seiner Dissertation intensiv gefolgt. So haben der Siegerländer Gemeinschaftsverband nicht nur im 19. Jahrhundert, sondern auch und gerade während der Zeit des Nationalsozialismus sein Verhältnis zu Politik und Welt immer wieder neu bestimmen und rechtfertigen müssen. Einerseits habe man sich auch während dieser Zeit mit drohenden Versammlungsverboten konfrontiert gesehen. Zugleich haben man sich nicht „mit der Welt gemein machen“ und politische Neutralität wahren wollen. Andererseits sei man aktiv Vorwürfen entgegengetreten, als frommer Pietist könne man „kein aufrechter Deutscher“ sein. Verschärft worden seien diese Konflikte zusätzlich durch die Verwicklung in den sogenannten „Kirchenkampf“, bei dem die Siegerländer Gemeinschaftschristen überwiegend der Bekennenden Kirche zugeneigt gewesen seien.
In der an den Vortrag anschließenden Diskussions- und Fragerunde zeigte sich ein besonderes Interesse der Zuhörerschaft an den letztgenannten Aspekten. Diesem Interesse kann im Rahmen eines weiteren, für das erste Halbjahr 2021 geplanten Vortrags zur Haltung des Siegerländer Gemeinschaftsverbandes während der Zeit des Nationalsozialismus nachgegangen werden. …“
Quelle: Ev. Kirchenkreis Siegen, Nachrichten 12.11.2020
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