„Die überraschend verkündete Öffnung der innerdeutschen Grenze im Jahr 1989 führte zum Zusammenbruch des DDR-Regimes. In den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen, welche erst am 12. September 1990 abgeschlossen werden konnten, wurde über die Zukunft eines gesamtdeutschen Staates entschieden. Die Wiedervereinigung nahm Gestalt an – die konkreten Maßnahmen zur Umsetzung mussten noch definiert werden, wie beispielsweise die Herauslösung der Nationale Volksarmee aus dem Warschauer Pakt zum 24. September desselben Jahres.
Mit der Auflösung der Nationale Volksarmee musste auch eine Entscheidung zur Souveränität des deutschen Luftraums über den neuen Bundesländern einhergehen. Zunächst bestand die Sowjetunion darauf, die Sicherung und Überwachung dieses Luftraums selbst zu übernehmen – solange bis der Abzug der sowjetischen Streitkräfte zum Ende des Jahres 1994 abgeschlossen sei. Diese Forderung konnte in den folgenden diplomatischen Verhandlungen verworfen werden: Die vereinte Republik sollte ihren Luftraum selbstständig über dem gesamten Bundesgebiet überwachen.
Die sicherheitspolitisch äußerst sensible Aufgabe der Luftraumüberwachung wurde in der ehemaligen DDR wie auch in der BRD seit den sechziger Jahren von den jeweiligen Luftstreitkräften wahrgenommen. Für Westdeutschland war das der Radarführungsdienst der Luftwaffe, welcher seither an 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr die Integrität des deutschen Luftraums sicherstellte. Im Ernstfall werden hier Luftraumverletzungen und potenzielle Aggressoren erfasst und entsprechende Schutzmaßnahmen eingeleitet. Als der gesamtdeutsche Luftraum zum 3. Oktober 1990 lückenlos überwacht werden sollte, stand der Radarführungsdienst vor einer schwierigen Aufgabe: Der gesamte Prozess musste aus allein nationaler Hand gestemmt werden. Ein Einsatz von NATO-Streitkräften bis zum endgültigen Abzug aller Sowjettruppen wurde untersagt. Die alten Bundesländer sollten folglich von deutschen NATO-Kräften und die neuen Bundesländer in davon losgelöster separater nationaler Verantwortung überwacht werden. Hierzu wurde ein eigener Gefechtsstand in Dienst gestellt, welcher als „Nationales Sector Operations Center“ (NSOC) bezeichnet wurde. Auch wurde auch eine eigens nationale „Quick Reaction Alert“ für den ostdeutschen Luftraum bereitgestellt.
Der „Stecker“ passt nicht …
Um diese Aufgabe erfüllen zu können, mussten Personal und Technik der NVA-Luftstreitkräfte in die westdeutsche Luftraumüberwachung integriert werden. Problematisch hierbei: Ein anderes taktisches Konzept wie auch verwendete Sowjettechnik waren nicht mit den Radargeräten und Führungssystemen der Luftwaffe kompatibel. Insgesamt wurden von der Nationalen Volksarmee 60 Radargeräte zweier Typen in die Luftwaffe übernommen. Hierzu zählten das 2D-Rundsuchgerät vom Typ P-37 und das Höhenmessradargerät vom Typ PRW-13. So konnte ein dreidimensionales Luftlagebild generiert werden, welches in Fürstenwalde zentral überwacht wurde. Fürstenwalde war auch in der NVA als Zentraler Gefechtsstand für die Luftraumüberwachung zuständig. Mit einer Datenlinkverbindung sollten die Radardaten aus Fürstenwalde dann in ein westdeutsches „Control and Reporting Centre“ (CRC) übermittelt werden. Das war aufgrund der unterschiedlichen verwendeten Systeme keine Leichtigkeit.
Erst am 26. und 27. September 1990 wurden die benötigten Gerätekomponenten, um eine vollständige Luftraumüberwachung sicherstellen zu können, aus Fürstenwalde abgeholt. NVA-Techniker installierten diese anschließend im Erndtebrücker CRC. Einer der NVA-Soldaten war der ehemalige Oberstleutnant Dr. Klaus Goldammer: „So erhielt ich den Auftrag, am 01.10.1990 mit vier Kameraden und zwei PKW voller Technik nach Erndtebrück zur fahren und die Einrüstung [des ostdeutschen Luftlagesystems MIDA-32M] durchzuführen.“
Eine Diode schreibt Geschichte
Am Morgen des Tags vor der deutschen Einheit wurde eine erste Datenübertragung erfolgreich getestet – die Fernmeldekanäle konnten jedoch aufgrund in der Bundeswehr nicht genutzter Technik zunächst nicht den erforderlichen Einfachstrom-Modus bereitstellen, so Goldammer. Deshalb habe er sich entschlossen, „auf Verdacht die Schaltung zu ändern und durch Einlöten einer Diode in den Empfangsrechner aus dem Doppelstrom- ein Einfachstromsignal zu erstellen. Der Versuch gelang und wir hatten ein Luftlagebild aus Fürstenwalde“.
Ab dem 2. Oktober 1990 stand ebenso Fachpersonal der Luftwaffe in den zu übernehmenden Radarstellungen, Gefechtsständen und Einheiten bereit, um die Umstellung auf neue Strukturen zu begleiten. Knapp 90 höherrangige Unteroffiziere, Offiziere und Stabsoffiziere wurden so in die neuen Bundesländer kommandiert.
Um 00:01 Uhr des 3. Oktobers 1990 meldete Fürstenwalde erstmalig die Luftlage nach Erndtebrück – alles verlief planmäßig und ohne Zwischenfälle. Im Vorhinein wurden die Datenverbindungen zu den Gefechtsständen des Warschauer Pakts unterbrochen. Die Integration der Funktechnischen Truppen der NVA in die Bundeswehr im Zuge der Vorbereitungen zur Übernahme des Luftraums gilt als Vorzeigeprojekt der „Armee der Einheit“. So kann der Radarführungsdienst als erster Teilbereich der Bundeswehr gesehen werden, der noch vor der formalen Wiedervereinigung einsatzbereit gewesen ist – zur Sicherung des deutschen Luftraums. Die ehemaligen Angehörigen der Nationalen Volksarmee leisteten demnach einen essentiellen Beitrag in der Bundeswehr, um den deutschen Luftraum lückenlos zu überwachen und dessen Integrität in den alten wie den neuen Bundesländern sicherzustellen.“
Quelle: Bundeswehr, Luftwaffe, Aktuelles, 6.10.2020