70 Jahre „Ge(h)Denken“ (in) der Stadt Siegen
Am 16. Dezember 2014 jährt sich zum 70. Mal der Tag, an dem die Stadt Siegen durch einen alliierten Bombenangriff in nur wenigen Minuten zu 80 Prozent zerstört wurde. 348 Menschen verloren hierbei ihr Leben.
Der Jahrestag der Zerstörung Siegens im Jahr 1944 ist wieder Anlass für verschiedene Veranstaltungen und Aktionen des „Siegener Bündnis für Demokratie“, mit denen seit 2008 gesellschaftsübergreifend und schwerpunktmäßig in der Oberstadt zu einem aktiven Ge(h)Denken“ aufgerufen wird.
Über das Programm, das traditionell mit dem „Stillen Gedenken“ der Stadt Siegen am Dicken Turm beginnt (15.00 Uhr) und in diesem Jahr mit um 20.00 Uhr mit einem Konzert der Kantorei Siegen in der Nikolaikirche endet (20.00 Uhr), informiert Sie das unten stehende Programm: FlyerGehDenken16122014
Quelle: Pressemitteilung der Stadt Siegen, 11.12.14
Alle Jahre wieder das gleiche Rätsel: Als gedenkwürdig deklariert werden genau 348 Opfer, nämlich die ums Leben gekommenen Einwohner der Stadt. Wofür hält man den Tod der unfreiwilligen Gäste Siegens? Kollateralschaden, der keiner Erwähnung bedarf? Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern blieb die Zuflucht in den städtischen Luftschutzeinrichtungen, bei deren Ausbau sie zuvor eingesetzt worden waren, verwehrt, und außer den unmittelbaren Opfern während der Bombardierung gab es sicherlich weitere bei den anschließenden lebensgefährlichen Arbeiten zum Wohle der Stadtbevölkerung, z.B. der Beseitigung von Blindgängern und der Bergung Verschütteter. Oder glaubt man im Siegener Rathaus vielleicht, nur Herr Flick und Konsorten hätten von den billigen Arbeitskräften aus Ost und West profitiert?
P.K.
Der nicht von der Hand zu weisenden und mit gewohntem Verve vorgetragenen Kritik an der Pressemitteilung der Stadt Siegen fehlt m. E. wenigstens ein Lösungsvorschlag. Eine Redaktion des Textes schwebt mir allerdings da nicht vor. Wie wäre es, wenn die bald in der Siegener Oberstadt einziehenden Wirtschaftswissenschaftler mit ihren Studierenden sich mit dem Themenkomplex Zwangsarbeit auseinander setzen? Dies wird dem Charakter der Veranstaltung am 16.12. gerecht, bereichert ihn (hoffentlich) und man darf von wirtschaftsethischen Erkenntnisgewinnen träumen.
Leider irrt der geschätzte Kollege Kunzmann bei seiner „mit gewohntem Verve vorgetragenen Kritik an der Pressemitteilung der Stadt Siegen“: Diese spricht von 348 Menschen, nicht von Einwohnern oder gar von Bürgern der Stadt. Nach älteren, seriösen Quellen ist diese Zahl aufzuschlüsseln nach 290 deutschen Zivilisten, 26 deutschen Soldaten und 32 Zwangsarbeitern, so Flender (1979) und zuletzt D. Pfau (2005). Diese sicherlich in abschließenden Untersuchungen nach oben zu korrigierenden Zahlen wurden in der Vergangenheit so auch immer vom Stadtarchiv kommuniziert.
Eine andere überlieferte Aussage über den Luftangriff lautet z.B.: „Dabei starben 348 Deutsche sowie eine nie festgestellte Zahl ausländischer Zwangsarbeiter“. Ob das auf eine unseriöse Quelle zurückgeht, lasse ich offen; vielleicht kann der Autor dieses Satzes hier etwas dazu sagen. Auf jeden Fall scheint mir die Angabe „nie festgestellte Zahl“ sehr viel wahrscheinlicher zu sein als die (von wem wann und warum?) angeblich gezählten „32“. Und ob es nun 348 oder „nur“ 290 Siegener waren, halte ich für nichtssagend: Jeder Tote war genau einer zu viel, und das läßt sich durch wie auch immer lautende Summen nicht relativieren. Wenn meine Interpretation der städtischen Pressemitteilung unkorrekt war, nehme ich sie zurück. Meinen Eindruck, dass die Stadtvertreter an einer gründlichen Dokumentation der kommunalen Geschichte 1933-45 (einschließlich der sich daraus womöglich ergebenden Konsequenzen für einen gewissen Personenkult) nicht ernsthaft interessiert sind, kann ich bis auf weiteres nicht revidieren.
P.K.
Die Zahlen fußen laut Pfau und, wie das Stadtarchiv bereits kommentiert hat, auf: Hans-Martin Flender: Der Raum Siegen im Zweiten Weltkrieg. Eine Dokumentation, Siegen 1979, S. 50.
Hilfreich wäre nun die Benennung der anderen Quelle!
1) Ich beantworte dann ´mal meine Bitte selber. Kunzmanns Zitat findet sich im Wikipedia-Artikel Siegen und dieser beruft sich wohl auf: Ulrich Friedrich Opfermann: Dezember 1944. „… een licht als van een bliksemschicht en een slag als van de donder …“. In: Siegener Beiträge. Jahrbuch für regionale Geschichte 10 (2005), S. 165. Aus Opfermanns Anmerkungen geht nicht hervor, dass er Flenders Buch benutzt hat. Vielmehr verweist er auf „Siegerländer Chronik von 1940-1949“ in: Adolf Müller (Bearb.): Krieg und Elend im Siegerland. Das Inferno an der Heimatfront in den 1940er Jahren, Siegen 1981, S. 233. Allerdings schlägt Opfermann bereits hier einen Abgleich der Daten des Standesamtes und des Friedhofamtes der Stadt Siegen vor, um die Zahl ausländischer Toten zu ermitteln.
2) Leider liegt mir Flenders Buch nicht vor. Vielleicht könnte jemand dort nach der Quelle für die konkreten Zahlen suchen?
Die Zahlen der Toten befinden sich bei Flender auf Seite 50 in
der oben genannten Dokumentation.
Als Quelle wird angegeben „Unser Heimatland Jahrgang 1954
(Verlag Vorländer, Siegen)“
Danke fürs Nachschauen!
Lieber Kollege Kunzmann, nun wird es aber ganz bunt. Lediglich Ihre zentrale Aussage unterschreibe ich vollinhaltlich: „Jeder Tote war genau einer zu viel, und das lässt sich auch durch wie auch immer geartete Summen nicht relativieren.“ Sollte der letzte Halbsatz aber als Replik auf meine Äußerungen gemeint sein, dann liegen Sie auch hier falsch. Ich habe nicht und Nichts relativiert, sondern unter Hinweis auf die in der Zahl 348 Menschen enthaltenen 32 Ausländer lediglich Ihre irrige Aussage zurechtgerückt, es handele sich dabei ausschließlich um Siegener Bürger.
Kommen wir zu den Zahlen und den Quellen: Die Angaben von Wikipedia habe ich nicht überprüft; Opfermann beruft sich, wie Kollege Wolf schreibt, auf Adolf Müller, Krieg und Elend (1981), und gibt dessen Zahlen für den gesamten Landkreis und den Zeitraum vom 4.2.1944 bis zum 23.3.1945 an: „starben 1.096 Deutsche und eine nie festgestellte Zahl ausländischer Zwangsarbeiter“. Dann kommt erst der Bezug zu Siegen: „Sie [die Bombardierung Siegens, L.B.] forderte 348 Tote (wiederum ohne Ausländer).“ Für die letzte Aussage fehlt bei Opfermann ein Quellennachweis. Flender führt in seinem Buch von 1979 auf S. 50 die von mir genannten Zahlen an und zwar im Rahmen einer Liste, die alle Opfer von Bombenangriffen auf die Stadt Siegen aufführt; dies unter Berufung auf „Unser Heimatland“ 1954. Er kommt zu einer Gesamtzahl von 715 Toten („566 Deutsche Zivilisten, 98 Deutsche Soldaten, 32 Ausländer“).
Die erste Zahl korrespondiert auffällig mit den Angaben im ersten Verwaltungsbericht der Stadt Siegen von 1950, dort werden als Opfer von Fliegerangriffen bzw. der Kämpfe um Siegen 565 Zivilpersonen angegeben. Die gescholtene Kommune gibt dort (S. 6) in der zeitgebundenen Terminologie aber auch an: „Infolge von Krankheit und Fliegerangriffen sind ferner umgekommen: 675 ausländische Zivilarbeiter (einschl. deportierte Personen), 39 ausländische Kriegsgefangenen“.
Worauf kommt es nun an: Nicht auf Zahlen und Summen, denn die sind nichtssagend, siehe oben. Es kommt darauf an, wie mit den Opferzahlen umgegangen wird. Und da konnte jeder, der es wollte, seit 1950 nachlesen, dass in der Stadt Siegen auch die zwangsweise nach hier deportierten und hier umgekommenen Menschen zumindest ‚gezählt‘ wurden. Ob diese Opfer auch immer angemessen gewürdigt wurden, steht dahin.
Links zur Berichterstattung der lokalen Medien über die Veranstaltung:
1) http://www.siegener-zeitung.de/siegener-zeitung/Gedenken-an-die-Opfer-35517af2-303e-4402-8eb6-47998ff9ddd7-ds
2) http://www.derwesten.de/staedte/nachrichten-aus-siegen-kreuztal-netphen-hilchenbach-und-freudenberg/zu-fuss-durch-das-brennende-siegen-id10148320.html
3) „Am 16. Dezember 1944 sind über Siegen mehr als 50.000 Bomben abgeworfen worden. Der Angriff dauerte nur wenige Minuten. 348 Menschen starben. Eberhard Jung aus Siegen überlebt.“: http://radio-siegen.de/_pool/files/beitraege/767559.mp3
4) WDR, Lokalzeit Siegen v. 16.12.2014 (7-Tage online): http://www1.wdr.de/mediathek/video/sendungen/lokalzeit/lokalzeit-suedwestfalen/videolokalzeitsuedwestfalen1090.html
Lieber Herr Burwitz,
Sie wissen genau, dass Sie von mir keine gemeinen Repliken zu erwarten haben. Mit meiner in der Tat „zentral“ gemeinten Aussage wollte ich nur dem Verdacht vorbeugen, mir ginge es um irgendwelche statistischen Spitzfindigkeiten.
Herrn Opfermanns Originalbeitrag hatte ich gestern gerade nicht zur Hand, deshalb der provisorische Griff nach Wikipedia.
H.-M. Flenders „Quelle“ ist, wie hier schon erwähnt, „Unser Heimatland“. Das sind bekanntlich jährlich zusammengestellte Nachdrucke von Artikeln der „Siegener Zeitung“. Ob der entsprechende Beitrag dort als „seriöse Quelle“ zu betrachten ist oder ihm wenigstens eine solche zugrunde lag, wäre zu klären. Die Widersprüche zu dem von Ihnen dankenswerterweise zitierten Verwaltungsbericht (seriösere Quelle als die Zeitung) springen nun natürlich ins Auge: Laut letzterem „sind ferner umgekommen: 675 ausländische Zivilarbeiter (einschl. deportierte Personen), 39 ausländische Kriegsgefangenen“. Das ist nun wahrlich eine andere Größenordnung als die von Unser Heimatland bzw. Siegener Zeitung insgesamt für den Zeitraum 1940-45 angegebenen 51 Ausländer, auch wenn sich „675+39“ vielleicht nicht nur auf das Stadtgebiet beziehen sollte.
Mit Ihrem letzten Satz „Ob diese Opfer auch immer angemessen gewürdigt wurden, steht dahin“ haben Sie sehr treffend zusammengefasst, worauf ich letztendlich hinweisen wollte: Es mag ja sein, dass die Stadtoberhäupter bei ihrem „Ge(h)Denken“ immer auch eine abstrakte Zahl nicht-Siegener Opfer im Hinterkopf haben. Das ist bestenfalls Sentimentalität. Natürlich entgeht mir vieles, aber jedenfalls ist mir nicht bekannt, dass z.B. im Laufe der vergangenen 70 Jahre seitens der Stadt irgendwelche Bemühungen unternommen worden wären, den Umfang und die Bedeutung von Zwangsarbeit für die Kommune Siegen und ihre Bürger während der Kriegszeit zu ergründen und angemessen zu würdigen. Mir ist auch nicht bekannt, dass sich im Rathaus jemand beim täglichen Blick von der Chefetage hinunter auf die sogenannte „Fißmer-Anlage“ ernsthaft Gedanken darüber machen würde, wem eigentlich diese fragwürdige „Ehrung“ zuteil wird.
Dies etwas in Eile und ohne das Bedürfnis, hier mal wieder (wie es neulich in anderem Zusammenhang moniert wurde) eine Diskussion „hochkochen“ zu lassen.
P.K.
… Nicht schuldig bleiben möchte ich zum Schluß die Erwähnung des vor einigen Jahren von der Stadt in Auftrag gegebenen und seitdem von den Mitarbeitern des Stadtarchivs in mühseliger Kleinarbeit angelegten „Gedenkbuches für die Opfer von Krieg und Gewalt“. Nach bisherigem Stand wurden bereits annähernd 700 ausländische Zwangsarbeiter (Russen, Polen, Franzosen, Belgier, Niederländer, Tschechen) namentlich erfaßt, die während des 2. Weltkriegs in der Stadt Siegen gewaltsam ums Leben kamen, darunter viele Kinder und Jugendliche. (Dank an Herrn Burwitz, der mich gestern darauf aufmerksam machte und fleißig zählen ließ.) Es bleibt nun zu hoffen, dass die Existenz dieses wachsenden Verzeichnisses nicht als Alibi dafür herhalten muss, es bei öffentlich zelebrierter Betroffenheit nach Vorgabe des Terminkalenders bewenden zu lassen. Stadtgeschichtsschreibung, sofern sie wissenschaftlichen Ansprüchen gerecht werden und sich nicht mit bequem vor Ort recherchierbaren Teilaspekten begnügen will, bedürfte wegen des großen zeitlichen und finanziellen Aufwandes der institutionellen Förderung; verbale Interessebekundungen allein wären nicht ausreichend.
Die von H.-M. Flender 1979 nach „Unser Heimatland“ wiedergegebene ominöse Tabelle war in einer 60seitigen Sonderbeilage zur „Siegener Zeitung“ („Aus Not und Verderben zu neuem Aufstieg“, S. 32) vom 16.12.1954 ohne Nachweis der Quelle (falls es ein Nachdruck war) oder der zugrundeliegenden amtlichen Erhebung(en) veröffentlicht worden.
P.K.
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