Beton-Monster oder Schönheit auf den zweiten Blick. Ein Tagungsbericht.

Die Entstehungsgeschichte der Siegener Bildungsbauten auf dem Haardter Berg war Thema eines Kolloquiums der Architekturgeschichte an der Universität Siegen. Die Campusarchitektur der 1960/70er Jahre stand im Zeichen des Brutalismus. Funktionalität, klare Linien, geometrische Formen und vor allem viel Beton prägen den Baustil, der gerade eine Renaissance erlebt.

Die wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen Isabell Eberling (links) und Lilian Kraft thematisierten auch Kunst am Bau und führten die Teilnehmer*innen des Rundgangs in den Hörsaal am Campus Paul-Bonatz-Straße, wo die Reliefkonstruktion vom Künstler Günter Drebusch zu sehen ist.

Die Silhouette der Universität Siegen fällt schon von weitem ins Auge. Markante Gebäude, hervorstechende Türme. Ein Ensemble aus Beton und Stahl, das beispielhaft ist für eine Architekturströmung der Moderne: den Brutalismus. Der Begriff verweist auf rohen, unverkleideten Beton (franz. béton brut), der den Bauten ihre besondere Ästhetik verleiht. Brutalistische Gebäude – Museen, Wohnkomplexe, Kirchen, Bibliotheken, Hochschulen – findet man weltweit. In London, Paris, Wien, Madrid, Sydney – und auch in Siegen. Um zu zeigen, was hinter den Gebäuden der Uni Siegen steckt und um die Bedeutung der Hochschule im Reigen der herausragenden Beispiele von Campusarchitekturen zu unterstreichen, hatte Prof. Dr. Eva von Engelberg (Architekturgeschichte) mit den beiden wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen Isabell Eberling und Lilian Kraft zu einem öffentlichen Kolloquium zur Campusarchitektur der 1960/70er Jahre an die Uni Siegen eingeladen. Es kamen nicht nur Fachleute, Studierende und Uni-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter, sondern auch Anwohnerinnen und Anwohner des Haardter Bergs, um mehr über den baulich-mächtigen Nachbarn zu erfahren, der eher mit dem Ruf des Hässlichen zu kämpfen hat, als dass man ihn als wichtiges Beispiel für eine architektonische Epoche wahrnimmt. Dabei hat das vermeintliche Betonmonster mehr als einen zweiten Blick verdient, findet Eva von Engelberg. „Es gibt eine rege Forschungstätigkeit zum Brutalismus und zur Campusarchitektur der 60er und 70er Jahre und unser Ziel ist es, dass wir die Siegener Bauten mit in diese Diskussion einbinden.“

Isabell Eberling und Lilian Kraft haben im Wintersemester 2023/24 die Baugeschichte am Haardter Berg gemeinsam mit Studierenden intensiv aufgearbeitet. Nachdem bereits Mitte der 60er Jahre im Rahmen eines großen Städtebauprojektes erste Bildungsbauten auf dem Haardter Berg errichtet worden waren, entstanden ab 1972 weitere Gebäude der damaligen HölderlinGesamthochschule Siegen. „Und das in relativ kurzer Zeit. Der heutige Campus Hölderlin wurde in nur zwei Jahren zwischen 1972 und 1974 errichtet“, erklärt Isabell Eberling. Möglich war das, weil fünf Gesamthochschulen in Nordrhein-Westfalen mehr oder weniger parallel aufgebaut wurden und zwar auf Basis eines von der Zentralen Planungsstelle zur Rationalisierung von Landesbauten NRW entwickelten modularen Planungssystems. So konnte vieles in Serien gefertigt und schnell verbaut werden. Bei den Hochschulen (Siegen, Paderborn, Wuppertal, Duisburg und Essen) gebe es zwar wiederkehrende Elemente, sie seien aber dennoch sehr verschieden, so Lilian Kraft. „Allein durch die Topographie und dadurch, dass es zum Beispiel am Haardter Berg schon eine Bildungslandschaft und eine Wohnbebauung gab.“

Das Baukasten-Prinzip sei zwar technischer Natur gewesen, aber der „brutalistische Stil“ sei auch als schön und modern empfunden worden. „Und das gilt heute wieder“, betont Isabell Eberling. Der Brutalismus erlebt eine Renaissance und wird als Architekturströmung gewürdigt, auch weil er Einfachheit und Ehrlichkeit in den Mittelpunkt stellt: Das französische „brut“ kann man nicht nur mit „roh“, sondern auch mit „ehrlich“ übersetzen. Was da ist, wird nicht versteckt oder verziert. Nicht nur der Beton bleibt sichtbar, sondern auch Ziegel, Stahlteile, Schrauben. Decken liegen frei, wie etwa im Innenraum der Bibliothek. „Man sieht Leitungen und Versorgungsrohre und erkennt so, wie das Gebäude funktioniert“, erklärt Isabell Eberling.

Am Campus Adolf-Reichwein-Straße seien mit der Mensa und der Bibliothek qualitativ herausragende Gebäude geschaffen worden. „Beteiligt waren bekannte Architekten wie Erich Schneider-Wessling oder die Bürogemeinschaft Eller-Moser-Walter, die mit der Haardter-Berg-Hauptschule und der Pädagogischen Hochschule schon prägend war“, so Lilian Kraft.

Leider sei das einheitliche Bild der Siegener Campus-Gebäude verlorengegangen. Zum Teil weil der Beton verwittert oder überstrichen wurde, zum Teil weil Gestaltungselemente wie die markanten Rettungswege im Zuge von Sanierungsmaßnahmen verschwunden sind.

Eva von Engelberg, Isabell Eberling und Lilian Kraft wünschen sich, dass das Charakteristische des Campus gesehen und geschätzt wird. Woanders werden brutalistische Gebäude unter Denkmalschutz gestellt und gelten als schicke Bauwerke. Das Deutsche Architekturmuseum Frankfurt/M. organisierte 2017 die Ausstellung „SOS Brutalismus“, um den Blick auf die kraftvolle Ästhetik dieser Architektur zu lenken statt den „Betonmonstern“ den Abriss zu wünschen. „Das wäre in jedem Fall die schlechteste Lösung“, sagt Eva von Engelberg, nicht allein mit Blick auf die kulturellen Werte der Bauten: „Das ist unglaublich viel Beton und damit unglaublich viel gebundene ‚graue‘ Energie.“

Stattdessen solle man daran arbeiten, dass die Identifikation mit den Uni-Gebäuden stärker wird: „Wir können nur wertschätzen, was wir erkennen“, so Eva von Engelberg. Deshalb möchten die Wissenschaftlerinnen weiter an dem Thema arbeiten und den Menschen die Augen öffnen für die Werte, die da sind. „Es wäre schön, wenn der Haardter Berg als das wahrgenommen wird, was er ist: ein Aushängeschild der Universität Siegen“, so Eva von Engelberg. Aber: „Die Gebäude können das nicht alleine schaffen, das muss mit einem Gefühl der Wertschätzung einhergehen.“

Das Kolloquium des Lehrgebiets Architekturgeschichte war die erste große Veranstaltung im Zusammenhang mit dem neuen Interdisziplinären Zentrum für Bildungsräume an der Fakultät II der Uni Siegen. „Es gibt Interesse, dass unsere Ergebnisse nachhaltig sichtbar bleiben. Wir denken, es ist notwendig das weiterzuführen und durch das Kolloquium sind wir jetzt mit anderen Forscher*innen im Bereich der Campusarchitektur im engen Austausch“, so Eva von Engelberg.
Quelle: Uni Siegen, Neuigkeiten, 24.7.2024

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