In der öffentlichen Wahrnehmung ist der stadtbildprägende „Dicke Turm“ ebenso präsent wie die „Fürstengruft“. Auch der „Kurländer Flügel“ oder der „Wittgensteiner Flügel“ als Sitz der Universitätsbibliothek sind vielen Bürgerinnen und Bürgern ein Begriff. Weniger bekannt sind hingegen die nicht mehr existierenden Nebenbauten der Barockresidenz. Dazu gehören das Torgebäude „Halber Mond“, der Marstall, das Ballhaus, die Fachwerkzeile „Judengasse“, das sogenannte „Rote Haus“ als Witwensitz sowie die ehemalige Hofkapelle über der Fürstengruft. In seinem neuen Buch „Das Untere Schloss zu Siegen“ geht Christian Brachthäuser (Stadtarchiv Siegen) der Frage nach Entstehung, Nutzung und Niedergang dieser historischen Gebäude nach.
„Eine vollständige Bau- und Nutzungsgeschichte des 1721 vollendeten Unteren Schlosses auf Grundlage historischer Quellen wäre nicht nur eine Bereicherung der nassauischen Landes- und Residenzforschung, sondern sicher auch der Stadthistorie“, so Brachthäuser. Das nach dem Siegener Stadtbrand von 1695 schrittweise errichtete Untere Schloss diente der reformierten Linie des konfessionell geteilten Fürstentums Nassau-Siegen (bis 1734) und dem Haus Nassau-Oranien (bis 1815) als Herrschaftsmittelpunkt, verlor aber schon Ende des 18. Jahrhunderts allmählich seinen Residenzcharakter und wurde teils als Schulgebäude genutzt, teils in einen Behördensitz umfunktioniert oder an Gewerbetreibende verpachtet.
Welche Rollen spielten die spätestens im Zweiten Weltkrieg zerstörten Dependancen? Christian Brachthäuser erklärt: „Man könnte meinen, dass die unbewohnten Ensembles eher bedeutungslos gewesen sind, gewissermaßen architektonische Wurmfortsätze, die den Allüren des Hochadels entsprangen. Doch gerade diese Anbauten haben mit dazu beigetragen, das Untere Schloss als harmonische Einheit erscheinen zu lassen. Sie waren nicht nur Ausdruck, sondern Bereicherung eines barocken Stilkonzepts. In diesem Zusammenhang dürfen wir nicht vergessen, dass das Untere Schloss bis ins 20. Jahrhundert ein repräsentatives Element der Stadtentwicklung Siegens gewesen ist, die anfänglich der Hofkultur diente, später jedoch durch die behördliche und zivile Nutzung das Selbstbewusstsein der Bevölkerung und ihrer Funktionsträger herausstrich“.
Von zentraler Bedeutung für eine Rekonstruktion der überraschend vielfältigen Nebengebäude ist ein Inventar von 1785 im Bestand des Landesarchivs NRW (Abteilung Westfalen) in Münster, das Brachthäuser akribisch ausgewertet hat. Fragen der Raumaufteilung werden darin ebenso thematisiert wie Aspekte der Innendekoration oder des Verwendungszwecks der in den einzelnen Gemächern und Etagen beschriebenen Einrichtungsgegenstände. Dabei hat der Autor spannende Entdeckungen gemacht. In der sogenannten „Franzosenzeit“ von 1806 bis 1813 war in der „Judengasse“ beispielsweise eine Druckerei untergebracht, die mit zahlreichen Buchproduktionen Impulse für den Literatur- und Kulturbetrieb unter dem „Krönchen“ setzte. Das Dach des ehemaligen „Halbmondgebäudes“, das die Funktion einer bewachten Zufahrt zum Unteren Schloss besaß, wurde Ende des 18. Jahrhunderts von einem achteckigen Glockenturm mit einer alten Schlaguhr und Messingkuppel bekrönt. Die letzte Bewohnerin des „Roten Hauses“ am Kohlbett war Gräfin Anna Polyxena Sidonia von Bentheim-Steinfurt (1749-1799), eine dem Pietismus zugeneigte Dame, die von Johann Heinrich Jung-Stilling als „seelige Freundin“ bezeichnet wurde, und zu deren Nachlass etliche Kostbarkeiten (darunter Diamanten und Porzellan) gehörten. Das sogenannte „Ballhaus“ wiederum diente nicht – wie man es vielleicht vermuten könnte – als Veranstaltungsort opulenter Maskenbälle, sondern als Vorläufer einer Tennishalle!
Christian Brachthäuser hat sich in zahlreichen auswärtigen Archiven (Wiesbaden, Münster, Burgsteinfurt und Den Haag) auf Spurensuche begeben und dabei Akten, Karten und Pläne studiert, die ein anschauliches Bild vom Inneren und Äußeren der nicht erhalten gebliebenen Nebengebäude der dreiflügeligen Schlossanlage vermitteln.
„Das Untere Schloss zu Siegen“ (ISBN 978-3-96182-159-4) ist im Universi-Verlag der Universität Siegen erschienen und entweder direkt beim Verlag oder im örtlichen Buchhandel erhältlich. Der Preis beträgt 21,- Euro.
Quelle: Autoreninfo