Die Geschichtswerkstatt Siegen, ursprünglich entstanden aus einigen losen Treffen von Historikern der Universität Siegen und interessierten Laien, ist seit 1985 als Verein eingetragen und als gemeinnützig anerkannt. Sie hat ca. 60 Mitglieder.
Die Geschichtswerkstatt betreibt und fördert regionalhistorische Forschungen. Arbeitsfeld ist neben dem Altkreis Siegen das angrenzende Sauerland, das Wildenburger Land, der Westerwald, Nassau-Dillenburg und Wittgenstein. Seit 1996 gibt sie ein Jahrbuch – die „Siegener Beiträge“ – heraus. Die 16 Jahrbücher, die bisher vorliegen, dazu sechs Sonderbände, sind bei der Geschichtswerkstatt, im Stadtarchiv Siegen, aber auch im gut sortierten Buchhandel erhältlich.
Nunmehr ist in einer Auflage von 500 Exemplaren der 17. Band fertig gestellt. Er umfasst ca. 320 Seiten, ist, wie stets, reich illustriert und enthält neben einem Halbdutzend Buchbesprechungen zehn Aufsätze fachkundiger Autorinnen und Autoren:
Jens Friedhoff
Schloss Schönstein bei Wissen an der Sieg
Besitzgeschichte, bauliche Entwicklung und Ausstattung im Spiegel der archivalischen Überlieferung
Von der Regionalgeschichtsforschung und von der Kunstgeschichte bislang kaum zur Kenntnis genommen, zählt das auf einem Bergsporn unweit von Wissen gelegene Schloss Schönstein zu den bedeutendsten Profanbauten des Siegtals. Die imposante Anlage, deren geschichtliche Anfänge bis in die Mitte des 13. Jahrhunderts zurückreichen, befindet sich seit mehr als 400 Jahren im Besitz der Familie von Hatzfeldt und beherbergt seit 100 Jahren u.a. die Hatzfeldt-Wildenburg`sche Verwaltung.
In dem Beitrag wird erstmals auf der Grundlage einer reichen archivalischen Überlieferung die wechselvolle Bau- und Nutzungsgeschichte des Schlosses nachgezeichnet. Urkunden, Renteirechnungen und Bauakten vermitteln ein lebendiges Bild des frühneuzeitlichen Baubetriebs. Die Ausstattung des Schlosses spiegelt sich in verschiedenen Inventaren und Beschreibungen des 16. bis 18. Jahrhunderts wider. Ursprünglich bildete Schloss Schönstein den administrativen Mittelpunkt einer eigenen kleinen Herrschaft unter der Lehnshoheit des Erzstifts Köln. Nach einer wechselvollen Besitzgeschichte gelangten Schloss und Herrschaft Schönstein Ende des 16. Jahrhunderts an die Familie von Hatzfeldt, die zu diesem Zeitpunkt bereits sehr dem Anfang des 15. Jahrhunderts über die im Norden angrenzende Herrschaft Wildenburg verfügten. Nach dem Übergang an Preußen wurden diese Besitzungen in der Standesherrschaft Schönstein-Wildenburg zusammengefasst. Bis heute vermittelt Schloss Schönstein das Bild eines kontinuierlich genutzten Adelssitzes, dessen architektonisches Erscheinungsbild vornehmlich durch mittelalterliche und renaissancezeitliche Bauteile geprägt wird.
Christian Brachthäuser
Franz Josef Erbprinz von Oranien und Graf zu Chalon (1689-1703)
Ein vergessener Repräsentant der katholischen Dynastie Nassau-Siegen
Mythen und Legenden ranken sich um den Sohn des umstrittenen Fürsten Wilhelm Hyazinth. Wer war der im jugendlichen Alter von 14 Jahren verstorbene Erbprinz Franz Josef, der zu Beginn des 18. Jahrhunderts mit dem kaiserlichen Hof und Angehörigen des Hochadels korrespondierte, um die oranischen Erbschaftsansprüche der katholischen Dynastie Nassau-Siegen durchzusetzen? Warum wurde ein junger Siegener Fürst selbst in der südfranzösischen Papststadt Avignon als “Comte de Chalon“ bezeichnet und in der Schweiz als legitimer Anwärter auf das Fürstentum Neuchâtel angesehen? Wurde er 1703 im Rödger Wald tatsächlich kaltblütig von seinem machthungrigen Vater erschossen, wie es uns die Folklore weismachen will? Auf Grundlage einer Auswertung bislang unbekannter historischer Dokumente relativiert Christian Brachthäuser, Mitarbeiter des Stadtarchivs Siegen, Legenden und Vorurteile und präsentiert überraschende neue Erkenntnisse.
Gerlinde Klatte
Von Johann Moritz von Nassau-Siegen zu Johann Wenzel Bergl
Zur Entstehung und Rezeption der Gobelinserie „Tenture des Indes“
Während seiner Zeit als Gouverneur der niederländischen Westindischen Compagnie in Nordostbrasilien ließ Johann Moritz Graf (ab 1652 Fürst) zu Nassau-Siegen durch renommierte Naturwissenschaftler, Geografen und Künstler Fauna und Flora dieser südamerikanischen Gegend dokumentieren. Immer schon hatte der Siegener Landesherr davon geträumt, die Schönheiten des tropischen Landstriches auf kunstvoll angefertigten Wandteppichen festzuhalten. Auch wenn jene Wandteppiche, die der damalige Graf Johann Moritz für sich selbst weben ließ, leider verschollen sind, so sind immerhin diejenigen Tapisserien erhalten, die nach dem Tod von Fürst Johann Moritz in der Manufacture Royale des Gobelins in Paris nach Vorlage von Kartons des niederländischen Malers Albert Eckhout ab 1687 entstanden. Die Philologin Dr. Gerlinde Klatte geht dem kunsthistorisch aufschlussreichen und bislang wenig bekannten Aspekt nach.
Philip Dotschev
Eine bischöfliche Visitation im Siegerland im Jahr 1729. Ein Quellenfund
Erstaunlich, welche Überraschungen die Forschung bisweilen bereithält. In diesem Falle stieß Philipp Dotschev, Studienrat am Siegerlandkolleg, im Bayerischen Staatsarchiv Würzburg auf einen vergessenen Aktenbestand, der für die Geschichte des katholischen Siegerlands von nicht geringem Wert ist. 1729 machte sich der Mainzer Weihbischof Caspar Adolph Schnernauer auf die weite, beschwerliche Reise in den Norden seines Amtsbezirks, um die neu erbaute Siegener Marienkirche zu weihen und 2.900 Gläubigen das Sakrament der Firmung zu spenden, was damals „seit Menschengedenken“ nicht mehr vorgekommen war. Außerdem visitierte er die umliegenden Landpfarreien. Ihn interessierte ein schadhafte Kirchendach ebenso wie die herrschende Sexualmoral. Er befragte die Seelsorger ebenso wie die Gemeindeoberen. Wie er vorging, zeigt beispielhaft sein Besuch im Patronat St. Cäcilia in Irmgarteichen. Schnernauers Inspektionen waren Ereignisse, die lokal großen Widerhall fanden, aber sie schlugen auch überregional Wellen. Der Oberhirte erstattete seinem Herrn Bericht, dem Erzbischof von Mainz und Kurfürsten Franz Ludwig von Pfalz-Neuburg. Franz Ludwig seinerseits informierte seinen Neffen, Kaiser Karl VI. in Wien. Der Habsburger, selbst Katholik, registrierte die Nachrichten von der Periphe-rie des Bistums Mainz sehr aufmerksam, war er doch besorgt über das drohende Aussterben des katholischen Hauses Nassau-Siegen.
Peter Vitt
Die Firmen Achenbach und Achenbach & Hövel in Tiefenbach
Über die in Dreisbach und Tiefenbach im 19. Jahrhundert tätige Firma Achenbach, später Achenbach & Hövel, berichtet Peter Vitt. Dieses Unternehmen war zu seiner Zeit die mit Abstand bedeutendste Unternehmensgruppe im Amtsbezirk Netphen. Durch die Dynamik und Innovationsfreude der Inhaber wurde sie zur Keimzelle der industriellen Weiterverarbeitung des Siegerlandes im Bereich Eisen und Stahl. Man betrieb mehrere Reckhämmer, ein Walzwerk, eine Feilenfabrik, einen Drahtzug mit Schraubenfabrikation sowie ein Schleifwerk. Außerdem war man an der neuen Blaßhütte in Tiefenbach beteiligt.
Heiko Haumann
„Die Gegend wimmelt dort von Wilddieben.“
Ein Förstermord 1891 im Wittgensteinischen
Heiko Haumann, emeritierter Professor für Osteuropäische und Allgemeine Neuere Geschichte an der Universität Basel, widmet sich unter dem Titel „Die Gegend wimmelt dort von Wilddieben“ einer Studie über Jagdfrevel in Südwestfalen, insbesondere in Wittgenstein und im Siegerland. Ausgehend von einem Förstermord – im Oktober 1891 wurde der Wildhüter Friedrich Kroh, ein Vorfahr des Autors, in der Nähe von Dotzlar erschossen aufgefunden – schildert er den Gang der Ermittlungen, die Verhaftung des Wilderers und mutmaßlichen Täters Johannes Wagebach aus Weidenau sowie den Prozess, der mit der Verurteilung und schließlich mit der Hinrichtung Wagebachs im Juni 1893 endete. Ausführlich werden die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Wittgenstein am Ende des 19. Jahrhunderts dargestellt, die Wilddiebstahl entgegen romantischen Verklärungen als Ausdruck bitterer Armut einerseits, andererseits sozialer Konflikte mit dem Landesherren erscheinen lassen, wobei gewerbsmäßige Hehler und Händler von dem dichten Netzwerk der Wilderer profitierten.
Hildegard Stratmann
Zwischen „lernen, und immer wieder lernen“ und „Lächerlichkeit und Ausschweifungen“
Volksschullehrerausbildung am Lehrerseminar 1867–1914
Lehrerseminare, dreijährig, kleinstädtisch geprägt und konfessionell getrennt, waren „Pflanzstätten“ meist männlicher Volksschullehrer. 1867 gründete das Land Preußen das evangelische Seminar Hilchenbach; es sollte helfen, den Süden der Provinz Westfalen und das östliche Ruhrgebiet mit Lehrern zu versorgen. Die Forschung weiß einiges über die Hilchenbacher „Anstalt“. Dr. Hildegard Stratmann, Volkskundlerin aus Warendorf, gelingt es dennoch, durch den fokussierten Blick auf die „Zöglinge“ Unbekanntes zu Tage zu fördern. Wie fügten sich die Seminaristen in den Ort? Hilchenbach hatte kaum 2.000 Einwohner, ein Zehntel davon waren Schüler des Seminars. Die jungen Männer wohnten teils im Internat, teils bei Kostwirten. Sie kauften ein, ließen ihre Wäsche besorgen, spazierten in Anzug und Hut durch die Straßen, besuchten, soweit erlaubt, die Wirtshäuser, sangen sonntags in der Kirche und trugen zum Gelingen lokaler Feierlichkeiten bei. Sie waren ein halbes Jahrhundert lang fester Bestandteil des öffentlichen Lebens. Wie wurden die Seminaristen zu Pädagogen, treuen Staatsdienern und Autoritätspersonen? Das Unterrichtspensum war strikt, die freie Zeit denkbar knapp, die Disziplin streng, das Netz der Kontrollen dicht und die Kameradschaft der „Klassenbrüder“ demzufolge existenziell. Das Seminar war ein Mikrokosmos eigener Art, bestimmt von Genügsamkeit, Pünktlichkeit und Fleiß.
Ulrich F. Opfermann
Paula Fechenbach und Robert Jagusch
Jüdische Lebensgeschichten im 20. Jahrhundert
Mit Paula und Robert Jagusch lebte in den 1920er/30er Jahren ein deutsch-jüdisches Ehepaar am Wellersberg, das sich deutlich von den eingesessenen Angehörigen der Siegener jüdischen Gemeinde unterschied (der es auch gar nicht angehörte). Indem Ulrich Opfermann den Biografien der beiden wie auch ihrer Herkunftsfamilien an der Tauber, in Masuren und im Ruhrgebiet nachgeht, entfaltet sich ein Panorama jüdischer Lebenswelt im 20. Jahrhundert, vor, im und nach dem Nationalsozialismus.
Manuel Zeiler
Otto Krasa
Ein Heimatforscher in der Pionierphase der prähistorischen Archäologie
Seit dem 3. vorchristlichen Jahrhundert wurde im Siegerland Eisenerz gefördert und verarbeitet. Daran erinnert die Terrassierung von Berghängen, die Platz schufen für Werkstätten und Wohngebäude. Davon zeugen vor allem zahllose Schlackenhalden, die vom Abbau, vom Meilern, Rösten, Verhütten und Schmieden des Eisens übrig blieben. Bei der Entdeckung solcher Bodendenkmäler leistete Otto Krasa Pionierarbeit. 1911 kam der Schlesier, Jahrgang 1890, nach Gosenbach, wurde Lehrer an der dortigen Volksschule und begann 20 Jahre später, die Montanregion an der Sieg nach latènezeitlichen Spuren zu erkunden. Zu jener Zeit, als die Ur- und Frühgeschichte noch in den Kinderschuhen steckte und Behörden, die sich der Bodendenkmalpflege annahmen, fehlten, war die Archäologie ein Eldorado für Amateure, Autodidakten und Heimatforscher. Dr. Manuel Zeiler, Altertumsforscher beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe, stellt Otto Krasa und seine „Spatenforschung“ vor. Krasa war ehrgeizig, vom Jagdeifer nach neuen Fundstellen getrieben, höchst produktiv, gemessen an der Zahl seiner Publikationen, erfolgreich, angesehen, populär, aber auch ein Einzelgänger und Eigenbrötler, der den spektakulären Coup der sorgfältigen Analyse vorzog. Krasa schloss sich früh der NS-Bewegung an. Sein Eigensinn, seine Kauzigkeit, so die These Zeilers, bewahrten ihn jedoch davor, seine Grabungen und Experimente nach 1933 in den Dienst von Blut-und-Boden-Ideologie und Germanenmythos zu stellen.
Peter Kunzmann
„Lieber spät als nie“: Die Gründung der Ingenieurschule für Maschinenwesen in Siegen. Teil 2
Ein für die Universität Siegen bedeutender Vorläufer ist die Staatliche Ingenieurschule für Maschinenwesen, die 1957 ihre Pforten öffnete und 1971 in der Fachhochschule Siegen-Gummersbach aufging. Nach dem Krieg als erste Einrichtung ihrer Art in Nordrhein-Westfalen gegründet, kann sie als Paradebeispiel für den Aufschwung des technischen Ausbildungswesens in der Zeit des „Wirtschaftswunders“ gelten. Der Realisierung gingen indes Planungen, Dispute und Konflikte voraus, die bis in die 1930er Jahre zurückreichen. Erste Regungen, der Siegerländer Eisen- und Stahlindustrie zu einer höheren technischen Lehranstalt zu verhelfen, zeigten sich sogar schon am Ende des 19. Jahrhunderts. Teil 1 des Aufsatzes, der 2011 in den „Siegener Beiträgen“ erschien, verfolgte das Ringen um die Ingenieurschule bis zur kriegsbedingten Zäsur. Die Entwicklung nach 1945, die 1960 im Neubau am Fischerbacher Berg kulminierte, ist Gegenstand des 2. Teils. Universitätsarchivar Peter Kunzmann schildert darin vor allem dreierlei: die Debatten, die die Industrie, die lokale Politik und die Landesregierung in Düsseldorf über Angebot und Nachfrage an Ingenieuren führten, das Tauziehen, das um die Finanzierung einer neuen Ingenieurschule im Siegerland entbrannte, und die heftigen Meinungsverschiedenheiten, die Siegen und Weidenau austrugen, als es um den Standort der Schule ging. Siegen obsiegte.