Bericht über den Tagesordnungspunkz „Gerhard Stötzel-Ehrung“ auf der Bürgerversammlung vom 11. April 2022 in Grissenbach
Bereits vor über 20 Jahren war der am 23. Dezember 2021 verstorbene Netphener Heimatforscher Ewald Hatzig im Rahmen seiner familiengeschichtlichen Recherchen darauf gestoßen, dass einem gebürtigen Grissenbacher im 19. Jahrhundert an seinem neuen Wohnort Essen eine erstaunliche Karriere vom Metalldreher zum Zeitungsredakteur und zum Reichstagabgeordneten in Berlin gelungen war.
Die Frage, wo das Geburtshaus von Gerhard Stötzel gestanden hat, konnte aber erst jetzt geklärt werden. Hanne Kuhn aus Deuz fand im Rahmen ihrer Nachforschungen für ihr geplantes „Grissenbacher Häuserbuch“ heraus, dass es sich bei den in der Urkatasterkarte von Grissenbach aus dem Jahr 1837 für zwei nebeneinander liegende Hausgrundstücke jeweils genannten Eigentümern Andreas Müller um zwei verschiedene Personen handelte. Damit schied das heute noch existierende Haus „Sippche“ als Stötzels Geburtshaus aus. Auch wenn das Grundstück, auf dem Stötzels Geburtshaus stand, seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts mit einem städtisch anmutenden Ziegelhaus bebaut ist, ist die vorher noch offene Frage endlich geklärt, wo im Dorf eine Ehrung von Grissenbachs berühmtestem Sohn im öffentlichen Raum in Betracht kommt. Auf der jüngsten Bürgerversammlung in Grissenbach informierte Wilfried Lerchstein die Anwesenden in einem kurzen Vortrag über das Leben und Wirken von Gerhard Stötzel. Gemeinsam mit Thomas Kleber regte er zum einen an, den im Rahmen der Verkehrsberuhigung der alten Ortsdurchfahrt vor über 30 Jahren geschaffenen namenlosen, rot gepflasterten Platz in Sichtweite von Stötzels Geburtsstätte als „Gerhard-Stötzel-Platz“ zu benennen. An diesem zentralen Ort fand im Sommer 1990 das erste Grissenbacher Dorffest statt. Zum anderen wurde vorgeschlagen, in dem Bereich, wo einst sein Geburtshaus stand, mit einer Gedenktafel an die wichtigsten Stationen im Leben von Gerhard Stötzel zu erinnern. Ortsbürgermeisterin Annette Scholl ließ über diese Vorschläge abstimmen und konnte eine überwältigende Zustimmung hierzu feststellen. Spontan erklärte Thorsten Görg, der Vorsitzende des örtlichen Heimatvereins DKS, die Bereitschaft des Vereins, sich an der Finanzierung einer Gedenktafel zu beteiligen. Auch Annette Scholl möchte gerne aus ihrem Budget als Ortsbürgermeisterin diese Gedenktafel im Rahmen der „Stehenden Stadtführung“ der Stadt Netphen mitfinanzieren. Nunmehr ist es an den politischen Gremien der Stadt Netphen, am 23. Juni über eine seinen herausragenden Verdiensten angemessene Ehrung von Gerhard Stötzel in seinem Geburtsort Grissenbach zu beraten. Den entsprechenden Antrag hat Manfred Heinz, der Vorsitzende der SPD-Fraktion im Netphener Stadtrat, inzwischen gestellt. Während bereits vor Jahren im Netphener Baugebiet „Wiedich“ viele Zeitgenossen Stötzels (z.B. von Bodelschwingh, Brauns, Hitze, von Ketteler, Wichern), die alle selbst nie Netphener Grund und Boden betreten haben, mit Straßennamen geehrt wurden, wurde Gerhard Stötzel bisher übersehen und drohte, zu Unrecht in seiner Netphener Heimat in Vergessenheit zu geraten.
Informationen über das Leben von Gerhard Stötzel:
Gerhard Stötzel, * 4. Dezember 1835 in Grissenbach (Kreis Siegen), † 1. Juni 1905 in Berlin-Charlottenburg, war ein deutscher Politiker der Zentrumspartei und der erste Arbeitervertreter innerhalb der Zentrumspartei im Deutschen Reichstag.
Er war der erste Sohn des Landmannes (Landwirts) und späteren Fabrikarbeiters Tillmann Stötzel (* 30. April 1807 in Grissenbach, † 22. Mai 1883 in Essen, Jägerstraße 5) und seiner Ehefrau Maria Elisabeth, geb. Müller (* 20. November 1806 in Grissenbach, † 13. Mai 1865 in Essen), die am 3. Juli 1835 in Netphen römisch-katholisch geheiratet hatten.
Maria Elisabeth Müller war die Tochter des Hufschmieds Johann Müller (* 18. Dezember 1768 in Grissenbach, † 8. Januar 1833 in Grissenbach) und dessen Ehefrau Maria Christina, geb. Neusser, aus Rudersdorf und hatte u.a. den jüngeren Bruder Andreas Müller (* 11. Februar 1810 in Grissenbach, † 23. August 1848 in Grissenbach), einen gelernten Schmied, der mit Anna Catharina, geb. Müller, aus Nenkersdorf verheiratet war. Andreas Müller bewohnte mit seiner Familie gemäß der Urkatasterkarte von Grissenbach aus dem Jahr 1837 das Haus Nr. 24. Hier wohnte auch seine Schwester Maria Elisabeth mit ihrem Ehemann Tillmann Stötzel und den Kindern. In diesem Haus wurde also Gerhard Stötzel geboren. Sein Geburtshaus existiert nicht mehr. An seiner Stelle wurde Anfang des 20. Jh. das Ziegelhaus errichtet, in dem heute Jens Kühn mit seiner Familie wohnt (In der Grissenbach 14).
Gerhard Stötzel hatte noch vier jüngere, ebenfalls in Grissenbach geborene Geschwister. Dies waren die beiden Brüder Thomas (* 12. Oktober 1838) und Ferdinand (* 15. Juli 1842) sowie die beiden Schwestern Maria Elisabeth (*11. Januar 1845) und Gertrud (* 25. Januar 1848, † 12. April 1849 in Hainchen). Nach der Volksschule absolvierte er eine Lehre als Metalldreher, eventuell bei der Firma Hermann Irle in Deuz, und zog spätestens 1861 mit seinen Eltern und Geschwistern nach Essen. Hier war er bei den Kruppwerken beschäftigt.
Gerhard Stötzel heiratete am 2. Juni 1867 in Essen in der Münsterkirche, dem heutigen Dom, Anna Gertrud Adelheid Schüttelhöfer (* 17. Februar 1845 in Essen-Rellinghausen, † 19. August 1877 in Essen im Kloster der barmherzigen Schwestern, letzte Wohnadresse: Kopstadtstraße 13). Am 2. September 1868 wurde in Essen ihre Tochter Maria Margaretha geboren. Ihre zweite, am 10. Juli 1870 geborene Tochter Christine Elisabeth wurde nach dem Taufregister von St. Johann in Essen eine Woche später am 17. Juli getauft. Die Eheleute Stötzel wohnten damals in der Kettwiger Straße 55 in Essen. Außerdem gab es noch die Tochter Josephine, die am 6. Februar 1875 in Essen geboren wurde, am 2. Januar 1906 vor dem Standesamt Borbeck den Kaufmann Franz Anton Klüter geheiratet hat und am 28. Juni 1951 in Essen verstorben ist, sowie als jüngstes Kind den Sohn Theodor Ferdinand, der am 4. Februar 1877 in Essen geboren wurde. Nach dem frühen Tod der Mutter nur sechseinhalb Monate später im Alter von 32 Jahren wurden die vier Kinder von ihrer ledigen Tante Maria Elisabeth groß gezogen.
Gerhard Stötzel hatte als Unteroffizier am Frankreich-Feldzug 1870/71 teilgenommen und dabei seine französischen Sprachkenntnisse erweitert. Der Autodidakt Stötzel wurde anschließend Redakteur des christlich-sozialen Blattes „Rheinisch-Westfälischer Volksfreund“. In dieser Funktion musste er sich immer wieder gegen Beleidigungsklagen zur Wehr setzen. Verschiedentlich war er auch in den Kulturkampf verstrickt, sodass er wiederholt für sein mutiges Eintreten gegen Ungerechtigkeiten mit Geld- und Gefängnisstrafen belegt wurde.
Als Kandidat der christlich-sozialen Arbeitervereine und der Handwerkerschaft gewann Stötzel in der Stichwahl mit Unterstützung der Sozialdemokraten (Motto: „Stötzel muß durch“) 1877 gegen den offiziellen Kandidaten des Zentrums Christoph Ernst Friedrich von Forcade de Biaix die Wahl zum Reichstag im 5. Wahlkreis des Regierungsbezirks Düsseldorf (Stadt und Landkreis Essen). Der ultramontane bürgerliche Flügel der Zentrumspartei veröffentlichte damals in der Essener Volks-Zeitung einen Aufruf „Katholische Wähler!“, in dem er behauptete, Stötzel sei für Katholiken nicht wählbar. Stötzel schloss sich nach seinem Wahlsieg gleichwohl der Fraktion der Zentrumspartei im Reichstag an. Wenige Tage vor der Reichstagswahl vom 30. Juli 1878 war Stötzel in Haft genommen worden und die dem Zentrum nahestehende Essener Volks-Zeitung berichtete eine Woche vor dem Wahltermin: „Am Samstag ist die Nr. 158 des ‚Rheinisch-Westfälischen Volksfreundes‘ wegen des Artikels ‚Liberaler Wahnsinn‘, sowie die letzte Nr. 164 wegen des Artikels ‚Wahltyrannei‘ confiscirt worden“. Die Krupp’schen Arbeiter wurden vor und bei der Wahl massiv unter Druck gesetzt, ihren Arbeitgeber zu wählen. So wurden sie geschlossen zu den entsprechenden Wahlveranstaltungen geführt und erhielten farblich und inhaltlich präparierte Wahlzettel, um möglichst überwachen zu können, dass sie ihr Kreuz an die richtige Stelle setzten. Dennoch siegte Stötzel in Essen mit einem Stimmenvorsprung von 600 Stimmen über seinen früheren Arbeitgeber Alfred Krupp.
Die „Nationalliberalen“ stellten 1881 einen neuen prominenten Kandidaten gegen ihn, doch auch Generalfeldmarschall Graf Helmuth von Moltke zog gegen den populären Stötzel den Kürzeren. 1884 war es der Tuchfabrikant Ernst Huffmann aus Werden, der klar gegen Stötzel unterlag. Auch gegen Friedrich Alfred Krupp setzte sich der Mann aus dem Siegerland bei der Wahl 1887 durch, obwohl die Krupp’schen Arbeiter erneut gegen ihn beeinflusst worden waren. Nachdem er es 1890 dem Bergarbeiter Heinrich Pohlmann aus Altenessen überlassen hatte, gegen Stötzel anzutreten, gelang es dem Fabrikanten Krupp 1893 schließlich, in der Stichwahl einen Sieg gegen Stötzel zu erringen. Doch von 1898 bis zu seinem Tod 1905 ging der Wahlkreis Düsseldorf 5 (Essen) wieder an den Siegerländer Arbeiter, der 1898 gegen Krupp und 1903 in der Stichwahl gegen den Sozialdemokraten Paul Gräser siegte. So vertrat Stötzel in acht Wahlperioden die Interessen der christlich-sozialen Arbeiterschaft gegen prominente nationalliberale Gegenkandidaten. Die Reichstagsabgeordneten erhielten damals noch keine Diäten, so dass Stötzel für seinen Lebensunterhalt auf sein Einkommen als Redakteur angewiesen war. Stötzel blieb über Jahrzehnte der einzige Arbeiter in der Reichstagsfraktion der Zentrumspartei. Während seiner Berlin-Aufenthalte anlässlich der Sessionen des Reichstags wohnte Gerhard Stötzel bei seiner ältesten Tochter Maria Margaretha, die ledig war und deshalb als Lehrerin berufstätig sein durfte.
Stötzel war im Reichstag Mitunterzeichner des Gesetzentwurfes über die Sonntagsruhe und gegen Sonntagsarbeit. Zusammen mit dem aus Hanemicke bei Olpe stammenden Priester Franz Hitze und Freiherr von Hertling war er maßgebend an der Bergarbeiter-Schutznovelle beteiligt. Als Mitglied verschiedener Reichstagskommissionen engagierte er sich u.a. für eine Novellierung der Gewerbeordnung (Einführung von Handwerkerinnungen), einen Unfallversicherungsgesetzesentwurf, für die Beschränkung der Frauen- und Kinderarbeit und die Einführung einer Invaliden-, Witwen- und Hinterbliebenenversorgung.
Von 1885 bis zu seinem Tod war er für den Wahlkreis Koblenz-St. Goar auch Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses in Berlin, wofür er Diäten von täglich 15 Mark erhielt. Hier bekämpfte er vehement Bismarcks Kulturkampfgesetze. Darüber hinaus war Stötzel Gründungs- und Vorstandsmitglied im Volksverein für das katholische Deutschland. Er initiierte die Schaffung von „Volksbüros“, in denen die in Rechtsangelegenheiten unbeholfenen Arbeiter in geschäftlichen und gesetzlichen Angelegenheiten Unterstützung fanden.
Zu seiner Beisetzung am 5. Juni 1905 erschienen Abordnungen von fast hundert Vereinen mit ihren Vereinsfahnen und zahlreiche Vertreter der Stadt Essen, der Zentrumsfraktionen des Reichstags und des preußischen Abgeordnetenhauses. Seit 1979 trägt die Gerhard-Stötzel-Straße in Essen-Huttrop seinen Namen.
Wilfried Lerchstein
s. a. Westfälische Rundschau, 27.4.2022
s. a. Siegener Zeitung, 4.6.2022 (Rubrik Heimatland)
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