Am 31. März 2021 legten die Fraktionen von CDU, Grünen, Linken,SPD, UWG und Volt folgenden Text für die öffentlich sichtbar Tafel an der „Alfred Fissmer-Anlage“ als Beschlussvorschlag vor:
„Alfred Fissmer (1878-1966) war von 1919 bis 1945 Bürgermeister und Oberbürgermeister der Stadt Siegen. In seine Amtszeit fallen ein rasantes Wachstum und die Modernisierung der Infrastruktur der Stadt. Er war früh treibende Kraft beim Bau von Zivilschutzeinrichtungen. Das rettete vielen Men-schen das Leben, als die Stadt 1944 durch Bomben schwer zerstört wurde. Diese Leistungen brachten ihm die Anerkennung vieler Siegener*innen ein. Er wurde 1953 zum Ehrenbürger der Stadt Siegen ernannt und bekam das Große Bundesverdienstkreuz verliehen.
Fissmer machte Siegen schon frühzeitig zum Garnisonsstandort, was auch zur Zerstörung der Stadt durch alliierte Bombenangriffe beitrug. 1933 beantragte er die Aufnahme in die NSDAP, war förderndes Mitglied der SS und anderer NS-Organisationen. Als Oberbürgermeister und Chef der Polizei trug er während der NS-Diktatur die Verantwortung für die Verwaltung und öffentliche Sicherheit in Siegen und war somit mitverantwortlich für die Geschehnisse in Siegen. Gleichwohl gibt es Berichte, dass er sich für Verfolgte des NS-Regimes eingesetzt hat und immer wieder in Konflikt mit führenden Siegener Nationalsozialisten geriet. Die direkte Teilnahme an den Verbrechen des NS-Regimes konnte ihm nicht nachgewiesen werden.
Bis heute wirft die Rolle Fissmers in der NS-Zeit Fragen auf.“
Die FDP-Stadtratsfraktion schlägt demgegenüber folgende, ausführlich begründete Textfassung vor:
„Alfred Fissmer (1878-1966) war von 1919 bis 1945 Bürgermeister und Oberbürgermeister der Stadt Siegen. In seine Amtszeit fällt ein rasantes Wachstum der Stadt, insbesondere durch den Bau der Kasernen am Wellersberg, Fischbacherberg und Heidenberg in den dreißiger Jahren und ebenso durch die von Fissmer betriebene Eingemeindungspolitik. Alfred Fissmer betrieb gleichzeitig erhebliche Anstrengungen, die Siegener Infrastruktur zu modernisieren.
Fissmer war schon früh treibende Kraft beim Bau von Zivilschutzeinrichtungen. Das trug dazu bei, dass sehr viele Siegenerinnen und Siegener die Bombenangriffe in den Jahren 1944 und 1945 überlebten, während die Stadt schwer zerstört wurde.
Alfred Fissmer war spätestens 1937 NSDAP-Mitglied. Als Oberbürgermeister und Chef der Polizei trug er Mitverantwortung für die Verfolgung und Enteignung von Minderheiten und politisch Missliebigen.
1953 wurde Alfred Fissmer Ehrenbürger der Stadt Siegen und erhielt das Große Bundesverdienstkreuz.“
Link zu den Beiträgen über Alfred Fissmer auf siwiarchiv
1. Verantwortlich für die Bombardierung Siegens waren nicht die Kasernen, sondern die Eisenbahnanlagen. Die Kaserne spielten in den alliierten ZielPlanungen keine Rolle. Das lässt sich alles anhand von alliierten Quellen einfach überprüfen.
2. Fissner war ganz gewiss nicht die treibende Kraft bei den Luftschutzmaßnahmen in Siegen, sondern das Luftschutz – Bauprogramm, dass im Oktober 1940 verabschiedet wurde. Dort und in den nachfolgenden Bauprogrammen war fast geschrieben, welchen Umfang der Luftschutz in Siegen besitzen durfte. Dafür gab es dann auch staatliche Zuwendungen und Zuweisungen. Ich meine aber, dass Fissner den Abriss der Synagoge forciert hatte, um dort einen Luftschutzbunker zu errichten. Wenn das ein Verdienst war – ?
Genau wegen dieser Ungenauigkeiten und fehlerhaften Formulierungen ist der Alternativentwurf entstanden. Im Übrigen gilt aber nach wie vor das, was Thomas Wolf an anderer Stelle geschrieben hat: Man hätte sich grundsätzlich mehr Zeit für diese Dinge nehmen müssen.
Die Fraktion Die Linke hat sich intensiv mit den in den letzten Wochen (z. T. noch einmal) veröffentlichten Beiträgen von kundigen Experten und Historikern zur Causa „Fissmer“ – auch ausdrücklich der Begründung der FDP-Fraktion zu deren Antrag – beschäftigt. Und als Konsequenz die eigene Beschlusslage einer Revision unterzogen. Sie nimmt ihre Unterstützung des gemeinsamen Textentwurfs der sechs Fraktionen zurück und enthält sich auch bei einer Abstimmung des FDP-Antrags.
Angesichts der deutlich gewordenen Diskrepanzen und Defizite in der Erforschung der Persönlichkeit und des Handelns Fissmers und der Schwierigkeit ihrer Bewertung erscheint es der LINKEN als angemessen, sinnvoll und notwendig, dass sich zunächst der Arbeitskreis „Aufarbeitung der historischen Hintergründe von Straßennamen in Siegen“ damit in der gebotenen Ruhe beschäftigt bevor ein endgültiger Tafeltext beschlossen werden kann.
Des weiteren wird auch die Beschäftigung mit dem Langtext in Erinnerung gerufen, insbesondere das immer noch fehlende Literatur- und Quellenverzeichnis, zu dem ein Entwurf auf SiWi-Archiv bereits veröffentlicht wurde.
Siegener Zeitung, 15.4.2021 berichtet zur gestrigen Ratssitzung leider nur im Print: „Tafeltext zu Fissmer endlich gebilligt. Breite Mehrheit im Rat für Kompromissformel. Trotzdem tauchen neue Zweifel auf.“ . „Geteasert“ wird mit folgendem Zitat: „Der Hl. Nikolaus war auch kein Demokrat, trotzdem ändert niemand die Bezeichnung Nikolaikirche gleich nebenan.“ (Martin Heilmann, Ratsglied der Grünen)
Facebook-Post der Grünen Siegen, 15.4.2021:
Facebook-Post der Grünen Siegen, 16.4.2021:
Es wäre auch möglich, den Namen zurück zu nehmen
und auf einer Tafel zu erklären, warum der Name zurück genommen wurde.
Wäre möglich…immer noch!
Dieser, aus meiner Sicht immer noch mögliche Schritt, ist ein Kompromiss mit den Menschen, die immer noch nicht verstehen wollen oder können, das ein „Fördermitglied der SS“ für eine Ehrung im öffentlichen Raum einer Stadt
vollkommen ungeeignet ist!
„1. Es werden in kürzester Frist in ganz Deutschland Aktionen gegen Juden, insbesondere gegen deren Synagogen stattfinden. Sie sind nicht zu stören. Jedoch ist im Benehmen mit der Ordnungspolizei sicherzustellen, daß Plünderungen und sonstige besondere Ausschreitungen unterbunden werden können.
2. … (zu Archivmaterial in Synagogen)
3. Es ist vorzubereiten die Festnahme von etwa 20-30.000 Juden im Reiche. Es sind auszuwählen vor allem vermögende Juden. Nähere Anordnungen ergehen noch im Laufe dieser Nacht.“
…
(Geheimes Fernschreiben des Gestapa-Chefs Heinrich Müller an alle Gestapoleitstellen, 9.11.1938, 23.55 h)
„Geheim! Dringend!
… Für die Behandlung dieser Vorgänge ergehen die folgenden Anordnungen:
1. …
a) Es dürfen nur solche Maßnahmen getroffen werden, die keine Gefährdung deutschen Lebens oder Eigentums mit sich bringen (z. B. Synagogenbrände nur, wenn keine Brandgefahr für die Umgebung vorhanden ist).
b) Geschäfte und Wohnungen von Juden dürfen nur zerstört, nicht geplündert werden. Die Polizei ist angewiesen, die Durchführung dieser Anordnung zu überwachen und Plünderer festzunehmen.“
5. Sobald der Ablauf der Ereignisse dieser Nacht die Verwendung der eingesetzten Beamten hierfür zuläßt, sind in allen Bezirken so viele Juden – insbesondere wohlhabende – festzunehmen, als in den vorhandenen Hafträumen untergebracht werden können.“
(Blitz-Fernschreiben des Chefs der Sicherheitspolizei Reinhard Heydrich aus München an alle Stapoleitstellen und SD-Ober- und Unterabschnitte, 10.11.1938, 1.20 h)
„Funkspruch ssd Berlin Nr. 4 … [Chef der Ordnungspolizei, Kurt Daluege, 10.11.1938, 5.30 h]
…
2. Die Ordnungspolizei begleitet solche Demonstrationen und Aktionen nur mit schwachen Kräften in Zivil, um evtl. Plünderungen zu verhindern.
3. …
4. Zerstörte offene Läden, Wohnungen, Synagogen und Geschäfte von Juden sind zu versiegeln, zu bewachen, vor Plünderungen zu schützen.“
(zit. nach: Wolf-Arno Kropat, Kristallnacht in Hessen. Der Judenpogrom im November 1938 [Schriften der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen, Bd. 10], Wiesbaden 1988, S. 74-77, 189)
„Vielenorts entglitten die Aktionen der Straße der Kontrolle des Regimes. Göring geriet über die angerichteten Sachschäden außer sich. Mehrfach befahl Berlin im Laufe des Tages die Verhinderung von Plünderungen und die Verfolgung der Täter.“ (Anselm Faust, Die „Kristallnacht“ im Rheinland. Dokumente zum Judenpogrom im November 1938, [Veröffentlichungen der staatlichen Archive des Landes Nordrhein-Westfalen, Bd. 24], Düsseldorf 1987, S. 55)
Zu den angesprochenen Orten mit Plünderungen gehörte Laasphe. Plünderer wurden dort angezeigt und es kam zu Strafverfahren, wenngleich mit milden Strafen: Ulrich F. Opfermann, „Mit Scheibenklirren und Johlen“. Juden und Volksgemeinschaft im Siegerland und in Wittgenstein im 19. Und 20. Jahrhundert, Siegen 2009, S. 106)
Mindestens die unmittelbare Vorstufe der Plünderung ist auch für Siegen bezeugt: Das SS-Mitglied Walter Schleifenbaum, einer der später im Brandstifter-Prozess Verurteilten, erklärte in seinem Entnazifizierungsverfahren, in dem er ansonsten zum Thema ein generelles Nichtwissen behauptete, er haben beim den „Ausschreitungen gegen die Juden im November 1938 … auch das zertrümmerte Schaufenster eines jüdischen Geschäftes gesehen.“ (ebenda, S. 111; archivalische Quelle: LAV NRW, Abt. Rheinland, NW 1.112, Nr. 1.768)
So wurde es am 7.11.2010 im Gespräch in der Siegener NS-Gedenkstätte von der Zeitzeugin Hedwig Grimm (* 1931) bestätigt: Die Kölner Straße sei zumindest in einem Teilbereich am Pogromtag mit Scherben übersäht gewesen. Gegenstände seien aus Läden auf die Straße geflogen.
Fazit:
1. Wenn es zutrifft, wie der Zeitzeuge Hugo Herrmann behauptet und wie es inzwischen viele Male in die vorherrschende lokale Überlieferung eingegangen ist, dass nämlich die Verhaftung jüdischer Männer und deren Inhaftierung im Polizeigefängnis Siegen am 9. November 1938 geschah, dann kann es nur eine lokale Initiative ohne Rückendeckung von oben des Polizeichefs der Stadt, des OB Fissmer, gewesen sein. Das sollte es sein, was in den städtischen Texten werden kann.
2. Der Behauptung des Zeitzeugen Hugo Herrmann, der OB Fissmer habe die Initiative ergriffen, um Plünderungen zu verhindern, fehlt zunächst einmal jede Basis. Ganz unzutreffend ist die Behauptung, es sei Militär eingesetzt worden. Das war nirgendwo so. Weder bezieht sich der Sprecher Hugo Herrmann auf eine schriftliche noch auf eine mündliche Quelle, etwa ein Gespräch mit dem OB (das auch sehr unwahrscheinlich wäre). Das wurde Er trägt eine ungedeckte Überlegung vor. Die leider inzwischen viele Male in erweiterten Varianten als „bewiesen“ in die Überlieferung eingegangen ist.
Falls Fissmer in dieser Angelegenheit irgendetwas unternahm, ging es auf eine Anordnung von ganz oben zurück. Er hatte sich an die Vorgaben zu halten und zu schauen, dass andere sich daran hielten.
3. Der Fall liegt also exakt so, wie schon beim Bunkerbau. Das eine wie das andere und auch die Aussagen zu den Zerstörungen im Stadtzentrum sind als Pflichtbaustein in die vorherrschende Überlieferung eingegangen. Die dem entgegenstehenden und seit langem bekannten in der Literatur anzutreffenden Sachverhalte wären zwar auf kurzem Weg zugänglich, wurden und werden jedoch hartnäckig ignoriert. Es lässt der Eindruck sich nicht abwehren, dass sie für die stadtoffizielle Überlieferung nicht zugelassen sind, die es vorzieht, ihn als „deutschnational gesinnten Beamten“ darzustellen, der „eher den Parteien der politischen Mitte und des rechten Flügels zugetan war“ und „auch seit 1933 weiterhin als tatkräftiger Entscheider und Lenker der Siegener Kommunalpolitik“ aufgetreten (HP der Stadt Siegen) und also verehrungs-/erinnerungswürdig sei. Damit wird eine vergangenheitspolitisch unglaubwürdige durchlaufende „demokratische“ Kontinuität des OB von Weimar bis heute festgeschrieben, die ihn als herausragenden Namenspatron für den zentralen Platz der Stadt akzeptabel sein lässt.
Danke für die Klarstellungen, die sich u. a. auf die im Kreisarchiv vorhandenen 30min Video-Interview aus dem Jahr 1981 (Signatur: KrA 4.1.5./39) mit Hugo Herrmann gemachten Aussagen Herrmanns zur Pogromnacht 1938 beziehen! Eine entsprechend gekürzte Version des Videos ist hier einsehbar: https://youtu.be/BSWLjMkxAy8