Das NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln plant derzeit mit finanzieller Förderung durch die Landeszentrale für politische Bildung NRW ein Zeitzeugen- und Forschungsprojekt zum Thema „‘Die Hitlerjugend ist das Volk von morgen‘ – HJ und BDM im Rheinland und in Westfalen 1930-1945“. Ziel des Projektes ist es, den bislang dominierenden Blick auf die NS-Jugendorganisation „von oben“, das heißt aus der Perspektive der Reichsjugendführung, um die Perspektive „von unten“, nämlich aus Sicht der Jugendlichen selbst und der HJ-Einheiten und ihrer Führer vor Ort, zu ergänzen und in den Mittelpunkt zu rücken. Ausführlichere Projektinformationen können Sie dem folgenden Exposé entnehmen:
Die Idee
Das gerade mit Blick auf die politisch-historische Bildung heutiger Jugendlicher in mehrfacher Hinsicht bedeutsame Thema „Hitlerjugend“ ist bislang insbesondere unter lokaler und regionaler Perspektive überaus schlecht erschlossen, auch wenn zahlreiche einschlägige Publikationen auf den ersten Blick anderes vermuten lassen. Fakt ist vielmehr, dass die Geschichte von HJ und BDM und ihrer Untergliederungen bis heute eigentümlich diffus bleibt und sich das verfügbare und damit vermittelbare Wissen für zahlreiche Aspekte eher auf Vermutungen als auf gesicherte Erkenntnisse stützt – und dies, obwohl es sich hier um die noch vor der NSDAP selbst mitgliederstärkste Parteiorganisation handelt, der als „Staatsjugend“ und als „Volk von morgen“ von den NS-Machthabern höchste Bedeutung beigemessen wurde. Die wichtigste Ursache für diesen äußerst unbefriedigenden Wissensstand ist die schlechte Überlieferungssituation, da zum Thema „Hitlerjugend“ kaum Quellen erhalten sind. Dieser Befund gilt in ganz besonderem Maße für Selbstzeugnisse von damaligen Mitgliedern der HJ.
An dieser Stelle setzt das geplante Gesamtprojekt zur Geschichte der Hitlerjugend an, das die missliche Lage in mehrfacher Hinsicht und notwendigerweise in mehreren Schritten grundlegend ändern möchte. Zentrales Ziel ist es, perspektivisch einen themenbezogenen Paradigmenwechsel herbeizuführen, indem der bislang dominierende Blick auf die NS-Jugendorganisation „von oben“, das heißt aus der Perspektive der Reichsjugendführung, um die Perspektive „von unten“, nämlich aus Sicht der Jugendlichen selbst und der HJ-Einheiten und ihrer Führer vor Ort, ergänzt, in den Mittelpunkt gerückt und in Teilen eventuell sogar ersetzt wird. Dabei soll eine weitgehende und innovative Vergleichbarkeit der Ergebnisse gewährleistet sein und zudem ein stringenter, in vielen Punkten wohl völlig neuer Blick sowohl von „oben nach unten“ als auch von „unten nach oben“ ermöglicht werden.
Landesbezug
Untersuchungsgegenstand des Projekts werden die kleineren HJ-Gliederungen in westdeutschen Städten und Dörfern sein, die – naturgemäß stets abhängig von der jeweiligen Quellenlage – in ihrer Arbeit und Entwicklung betrachtet werden sollen, um diese dann in den Kontext der nach der Reichsjugendführung wichtigsten Organisationseinheit – dem Gebiet (HJ) bzw. dem Obergau (BDM) – einordnen und beurteilen zu können. Da zu erwarten ist, dass auch diese Organisationseinheiten trotz ihrer Größe wiederum erhebliche Unterschiede aufwiesen, ist die räumliche Ausdehnung des Projekts so zu fassen, dass es mehrere Gebiete bzw. Obergaue zugleich in den Blick nimmt. Erst so wird eine Grundlage geschaffen, die eine weitgehende und innovative Vergleichbarkeit der Ergebnisse gewährleistet und einen stringenten, in vielen Punkten wohl völlig neuen Blick sowohl von „oben nach unten“ als auch von „unten nach oben“ ermöglicht.
Daher werden als Untersuchungsgebiet die drei HJ-Gebiete 9 (Westfalen; seit 1942/43 zusätzlich Westfalen-Süd als Gebiet 42), 10 (Ruhr-Niederrhein), 34 (Düsseldorf) und 11 (Mittelrhein) gewählt, womit gleichsam das heutige Bundesland Nordrhein-Westfalen zum Untersuchungsraum wird. Auf diese Weise können die unterschiedlichsten Einflüsse auf Entwicklung und Ausrichtung der Hitlerjugend Berücksichtigung finden, und es ist anzunehmen, dass durch einen derart umfassenden, bundesweit bislang einmaligen Ansatz bislang unberücksichtigte Aspekte erstmals in den Fokus rücken werden. Unter diesen Prämissen werden zudem bevölkerungspolitische, konfessionelle, „mentale“ und zahlreiche weitere Aspekte zum Untersuchungsgegenstand und in ihren jeweiligen Ausprägungen – auch dies erstmalig – zumindest in Ansätzen erklärbar.
Vorbereitende Arbeiten für ein Exposé
Ein solch umfassender Ansatz erfordert gerade bei dem einerseits so komplexen, andererseits aber schlecht mit Quellen dokumentierten Thema „Hitlerjugend“ erhebliche Vorarbeiten, um ein gleichermaßen stringentes wie realisierbares „Forschungstableau“ zu entwickeln, das dann in weiteren Schritten umzusetzen ist.
Zunächst gilt es die zwar umfangreiche, in vielen Punkten jedoch überholte oder wissenschaftlichen Ansprüchen nicht genügende Literatur zu erfassen und auszuwerten. Hierbei ist ein Hauptaugenmerk auf die lokal- oder regionalgeschichtlichen Beiträge zu richten, die – oft an entlegenen Stellen publiziert – durchaus interessante Aspekte beinhalten können. Neben diese Auswertung der verfügbaren Literatur tritt eine möglichst tiefgreifende Prüfung der Quellenlage. Hierzu werden nicht nur die großen überörtlichen Staats- oder Verbandsarchive angefragt, sondern insbesondere die Kreis- und in erster Linie die zahlreichen Kommunalarchive. Deren hoffentlich zahlreiche Antworten gilt es hinsichtlich möglicher Funde auszuwerten, um so die jeweilige Quellenlage als Grundlage für eine spätere inhaltliche Auswertung genau zu erfassen und die Befunde in konkrete „Recherchetouren“ umzusetzen.
Parallel zu diesen Arbeiten gilt es das Forschungsfeld unter räumlichen Gesichtspunkten präzise zu fassen und zu definieren, um auch hieraus konkrete Schwerpunkte abzuleiten. Das bedeutet zunächst, die sich im Laufe der Jahre wandelnde Organisationsstruktur der HJ mit all ihren Untergliederungen in allen Details zu dokumentieren. In einem weiteren Schritt gilt es dann, diese Struktur mit der staatlichen Gliederung zu „synchronisieren“, entsprachen die HJ-Banne in aller Regel doch den politischen Kreisen. Daher ist es naheliegend, das statistische Material, das im Zuge von Volkszählungen in den Jahren 1933 und 1939 gesammelt wurde, zusammenzutragen, um so nicht nur die nach Mädchen und Jungen getrennte Anzahl von Jugendlichen nach Kreisen und Orten zu erheben, sondern zugleich auch deren konfessionelle Verteilung zu ermitteln. Hieraus lassen sich dann sinnvoll begründete „Forschungszentren“ ableiten, in denen dann etwa der Frage nachgegangen werden kann, ob sich protestantische Jugendliche eher zur HJ hingezogen fühlten als gleichaltrige Katholiken.
Diese umfangreichen Vorarbeiten münden schließlich in einem einer „Machbarkeitsstudie“ ähnelndem Exposé, das auf weitgehend gesicherter Grundlage den weiteren Projektverlauf skizzieren und der weiteren Mittelbeantragung dienen würde.
Aufruf an Zeitzeugen
Gleichzeitig gilt es, die Suche nach den wenigen noch lebenden Zeitzeugen intensiv zu betreiben. Dabei sollen diese ehemaligen HJ- und BDM-Mitglieder insbesondere jene Materialien beisteuern, die sie – und nur sie – in ihrem Besitz haben. Neben Fotos und Fotoalben handelt es sich hierbei zumeist um „Selbstzeugnisse“ in Form von Tagebüchern, Fahrten- oder Gruppenbüchern sowie Briefen, die helfen sollen, den angestrebten neuen und eigenen Blick auf die Geschichte der Hitlerjugend und die Stimmungslagen ihrer Mitglieder zu eröffnen. Gerade diese Selbstzeugnisse wurden bislang von der Forschung sträflich vernachlässigt, was nicht zuletzt darauf zurückzuführen sein dürfte, dass ihr Aufspüren mit erheblichem zeitlichen, organisatorischen und finanziellen Aufwand verbunden ist, der die Kapazitäten und Möglichkeiten eines Einzelforschers weit übersteigt. Andererseits erlauben es aber letztlich erst diese Dokumente, weiterreichende Schlussfolgerung hinsichtlich der tatsächlichen Verfasstheit der damaligen Jugend(lichen) und der Erfolge bzw. Misserfolge der HJ zu ziehen.
Solche Materialien, das belegen die Erfahrungen des NS-Dokumentationszentrums, gibt es noch in erstaunlichem Umfang und in oft herausragender inhaltlicher Qualität, nur gilt es sie zu entdecken und die Besitzer davon zu überzeugen, ihre „Schätze“ zur Verfügung zu stellen. Gelingt das, ist zu erwarten, dass solche Selbstzeugnisse zumindest für einzelne Aspekte des Untersuchungsgegenstandes „Hitlerjugend“ zum Teil völlig neue Sichtweisen eröffnen und eine erhebliche Verbesserung der Kenntnisse von deren Geschichte ermöglichen werden. Gleichzeitig lassen sie aber auch einen wichtigen Beitrag zur Beurteilung der Wirkung ideologischer Beeinflussung auf eine ganze Generation erwarten.
Dabei – das sei ausdrücklich hervorgehoben – ist größte Eile geboten, denn die „HJ- und BDM-Generation“ hat ein Alter erreicht, das kein Zögern mehr erlaubt. Das gilt auch hinsichtlich eventueller Nachlässe, die gerade für die hier im Mittelpunkt des Interesses stehenden Materialien extrem bedroht sind, da die jüngeren Generationen der Erben kaum mehr in der Lage sind, auch nur die Handschrift zu entziffern, in denen solche Dokumente verfasst wurden. Das reduziert ihren Wert für etwaige Familiengeschichten und erhöht die Gefahr, dass sie über kurz oder lang in der Mülltonne enden. Insofern genießt – wie auch aus der Zeitplanung ablesbar – diese Materialsicherung im Projektverlauf zunächst Priorität.
Die praktische Arbeit zeigt aber auch, dass ein solcher Versuch nur dann tatsächlich den gewünschten Erfolg bringen kann, wenn man die potentiellen Leihgeber auf breiter Front erreicht. Das geschieht im Idealfall über Aufrufe in Fernsehen, Rundfunk, Presse und Internet. Bevor eine solche Aktion jedoch in die Tat umgesetzt werden kann, gilt es in personeller und technischer Hinsicht die notwendige Infrastruktur zu schaffen, denn erfahrungsgemäß kann das Echo auf solche Aufrufe überwältigend ausfallen. So meldeten sich im Jahr 1999 auf einen entsprechenden Appell zur Unterstützung beim Thema der „Erweiterten Kinderlandverschickung“ der Jahre 1941 bis 1945 allein für Köln rund 400 Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die – da mit solch einem Ansturm nicht gerechnet worden war – den Dienstbetrieb des NS-Dokumentationszentrums zeitweise fast lahmlegten. Dem gilt es – nicht zuletzt mit Blick auf das große Untersuchungsgebiet NRW – vorzubeugen und eine projektbezogene temporäre Infrastruktur zu schaffen, die eine zügige und fachgerechte Bearbeitung solcher Meldungen gewährleistet.
Zeitzeugeninterviews
Die ehemaligen HJ- und BDM-Mitglieder sollen das Projekt nicht nur durch Materialien unterstützen, sondern zudem in Form von lebensgeschichtlichen Interviews ihre jeweiligen Erlebnisse, Erfahrungen und Empfindungen aus dieser Zeit schildern. Angesichts des hohen Lebensalters der in Frage kommenden Personen gilt es, solche Zeitzeugengespräche bevorzugt zu behandeln und schnellstmöglich durchzuführen.
Die redaktionelle Bearbeitung der so gewonnenen Erinnerungen und Materialien wird dann nach der Vorstudie in einem zweiten Schritt erfolgen, wobei die so neu entdeckten und erschlossenen Dokumente um die Interviews mit jenen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen ergänzt werden, die wichtiges Material zur Verfügung stellen und/oder besonders Wichtiges zur Aufarbeitung des Themas HJ und BDM beizutragen vermögen. So können Teile der Quellen perspektivisch besser erschlossen und eingeordnet sowie der Hintergrund ihrer Entstehung im Kontext konkreter Biografien verständlicher gemacht werden.
Perspektiven
Die skizzierten Vorarbeiten werden das NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln und dessen beantragenden Förderverein in die Lage versetzen, ein fundiertes, methodisch abgesichertes und auf breiter Quellengrundlage basierendes Forschungsprojekt zu initiieren und durchzuführen, dessen Ergebnisse in vielerlei Hinsicht neu und aufschlussreich sein werden. Das gilt sowohl in Hinblick auf den wissenschaftlichen Ertrag als auch hinsichtlich der durch die angestrebte Materialfülle und der Zeitzeugeninterviews möglichen Präsentationsformen.
Um ausloten zu können, auf welches Material wir für dieses Projekt zurückgreifen können, würde es uns nun sehr interessieren, inwieweit es in Ihrem Archiv relevante Bestände zum Thema gibt. Neben Unterlagen zu den einzelnen NS-Jugendorganisationen selbst wären auch Bestände wichtig, die auf den ersten Blick themenfremd erscheinen, so beispielsweise Akten von Schulen und Schulämtern oder Jugendpflegern, die mit der HJ korrespondierten oder über sie berichteten. Im Einzelnen wären folgende Bestände für uns von Interesse:
- Akten, Statistiken, Chroniken, Befehlsblätter, Heimabendunterlagen, Liederbücher, Fotos, Zeitschriften und weitere Unterlagen der NS-Jugendorganisationen Hitlerjugend (HJ), Jungvolk (DJ), Bund Deutscher Mädel (BDM) und Jungmädel (JM)
- Schulakten und –chroniken
- Unterlagen zu HJ-Heimen (Beschaffung, Bau, Umwidmung z.B. in Akten der Bauverwaltung)
- Akten und Berichte der Jugendpflegers bzw. des Jugendamtes
- Lageberichte zur Situation der Jugend und/oder der HJ
- Lageberichte von NSDAP-Ortsgruppen, -Kreisleitungen und –Gauleitungen
- Unterlagen zu Adolf-Hitler-Schulen
- Bevölkerungsstatistiken aus den Jahren 1930 bis 1945 (möglichst aufgeschlüsselt nach Altersgruppen oder mit Angabe von Schülerzahlen in den einzelnen Jahrgängen)
- Akten, Chroniken, Zeitschriften etc. ortsansässiger Gruppen der konfessionellen und bündischen Jugend, der Arbeiterjugend und der Wehrjugendverbände
- Regional- und lokalgeschichtliche Veröffentlichungen zur HJ.
Stadt Köln – Der Oberbürgermeister
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