Lokale Rundfunk- und Fernsehmedien – Quellen für ein Kommunalarchiv?!

Überlegungen zu Archivwürdigkeit und Langzeitsicherung
Thomas Wolf, Westfälischer Archivtag 2011:

“Die Sicherung des audiovisuellen Erbes ist ein komplexer Prozess, der eine Reihe von rechtlichen, institutionellen, technischen und finanziellen Lösungen erfordert. Nichthandeln bedeutet den Verlust eines ganzen Kapitels dieses Erbes in weniger als zehn Jahren und führt zu einer bleibenden Verarmung von Gedächtnis, Kultur und Identität der Menschheit«
Koïchiro Matsuura, Generaldirektor der UNESCO, Tag des audiovisuellen Erbes, 27.10.2007[1]

Um auf die von Matsuura geschilderte Gefahr eines Kulturgutverlustes zu reagieren, ist es notwendig zunächst die rechtliche und quantitative Ausgangslage in Westfalen zu eruieren. Rechtlich gestaltete sich dies einfach, denn lediglich das Landesmediengesetz Nordrhein-Westfalen vom 5. Juni 2007[2] gibt Aufschluss über Aufbewahrungsfristen der lokalen Medienanstalten:

“ ….§ 43 Einsichtnahmerecht und Aufzeichnungspflicht

(1)   Die Sendungen sind vom Veranstalter in Ton und Bild vollständig aufzuzeichnen und aufzubewahren. Bei Sendungen, die unter Verwendung einer Aufzeichnung oder eines Films verbreitet werden, kann abweichend von Satz 1 die Aufzeichnung oder der Film aufbewahrt oder die Wiederbeschaffung sichergestellt werden.

(2)   Die Pflichten nach Absatz 1 enden drei Monate nach dem Tag der Verbreitung. Wird innerhalb dieser Frist eine Sendung beanstandet, enden die Pflichten nach Absatz 1 erst, wenn die Beanstandung durch rechtskräftige gerichtliche Entscheidung, durch gerichtlichen Vergleich oder auf andere Weise erledigt ist. …..”

Weitergehende Regelungen zu Aufbewahrungs- bzw. Archivierungspflichten der Medienanstalten finden sich nicht. Die Konsequenz ist, dass die Pflege eines längerfristigen Archivs zurzeit allein den Senderanstalten überlassen ist. Im Gespräch mit dem Chefredakteur von Radio Siegen zeigte sich eine weitere Gefahr: das Selbstverständnis der lokalen Sender. Lokale Radios verstehen sich eher als “Begleitmedien” und nicht so sehr als Inhaltsmedien. Dies führt dazu, dass die Sender den von ihnen ermittelten, unterhaltend verpackten Informationen einen geringen historischen Wert, auch im Sinne eines “Programmvermögens”, beimessen. Löschungen bei Ressourcenknappheit oder Systemwechseln sind Tür und Tor geöffnet.
Alle westfälischen Kreise und kreisfreien Städte verfügen über ein Lokalradio – mit einer Ausnahme: der Kreis Olpe. Hinzu kommen die Campusradio-Stationen der Universitäten Bielefeld, Bochum, Dortmund, Münster und Siegen. Verlässliche Aussagen über die Anzahl von “Bürgerfunk/Radiowerkstätten” in Westfalen ließen sich nicht ermitteln. An dieser Stelle wird lediglich auf die beiden lokalen Fernsehsender in Westfalen verwiesen: CityVision RegionRuhr, wm.tv (Westmünsterland TV mit Sitz in Bocholt).
Die lokalen Radiosender gewinnen ihre Bedeutung und ihren wirtschaftlichen Erfolg durch die Verbreitung in der Region. Eine Medienanalyse ergab im März 2011[3] beispielsweise für den Sender Radio Siegen eine Reichweite von 39,5%;  vierzig Prozent der Bevölkerung im Kreisgebiet Siegen-Wittgenstein hören täglich den lokalen Sender. Ein Vergleich: bei der Kreistagswahl am 30.08.2009 erreichte die CDU als stärkste Partei 37,74%.
Zur Klärung der Überlieferungssituation des audiovisuellen Dokumentationsgutes lokaler Medien wurden im Januar 2011 dem Arbeitskreis der nordrhein-westfälischen Kreisarchive beim Landkreistag Nordrhein Westfalen folgende Fragen gestellt:
1) Haben Sie bereits Dokumentationsgut der lokalen Sender (incl. Bürgerfunk) übernommen?
2) Falls ja, ist es erschlossen und benutzbar?
3) In welcher technischen Form liegt das Material bei Ihnen vor?

Das Ergebnis ist ernüchternd. In Westfalen verwahrt lediglich das Kreisarchiv Borken Mitschnitte von Sendungen mit Kreisthemen bzw. –mitarbeitern. Es liegen Tonbänder, Videobänder und  digitales Dokumentationsgut vor, das mit einer EXCEL-Liste erschlossen ist.
Es ist davon auszugehen, dass die Tendenz dieses Ergebnisses auch auf die Archive der kreisfreien Städte und auf die Universitätsarchive übertragen werden kann.

Angesichts der Zurückhaltung bei der Überlieferungsbildung ist die Frage zu prüfen, ob der Quellenwert des zu erwartenden, audiovisuellen Dokumentationsgutes lokaler Medien so gering ist, dass ein kommunalarchivisches Engagement archivwissenschaftlich nicht begründbar ist.
Wie ist es also um die Fähigkeit der Unterlagen bestellt, die Art und Weise der Tätigkeit lokaler Sender zu dokumentieren (Evidenzwert)? Zwei Beispiele aus dem digitalen Archiv des Senders Radio Siegen sollen verdeutlichen, was bei lokalen Medien erwartet werden kann.
Das Sounddesign ist quasi die akustische Visitenkarte des Senders. Das Jingle und die Anmoderation des “Radiojournals” auf Radio Siegen aus dem Jahr 1995 verdeutlichen gleich mehrere Sachverhalte:
a) das opulente Audio-Logo dieser Sendung wurde lt. mündlicher Auskunft des Chefredakteurs von Radio Siegen in den holländischen Endemol-Studios produziert und verweist auf amerikanische Vorbilder,

b) der Moderator ist zwischenzeitlich Pressesprecher des Kreises Siegen-Wittgenstein. Allein eine solche kurze Sequenz gibt also Hinweise zur Personal”politik” des Senders,

c) ebenfalls geht aus der Anmoderation hervor, dass sich das Sendestudio von Radio Siegen 1995 noch in der Siegener Bahnhofstr. (heute: am Obergraben) befand. Auch hier reicht dieser kurze Ausschnitt aus, zur Frage der Unterbringung des Senders Auskunft zu geben.
Die beiden, zuletzt genannten Punkte gehen sicher auch aus der schriftlichen Überlieferung der Senders hervor – aber in dieser Dichte?

Zur  Entstehung eines Radio-Beitrages findet sich bei Radio Siegen keine schriftliche Überlieferung (mehr). Lediglich Sounddateien geben Aufschluss über die Entstehung eines Beitrages. Von den ungeschnittenen Originalaufnahmen bis zu dem gesendeten Material zeigen auf, wie Radioschaffende arbeiten. Am Beispiel des Formats “Jahresrückblick” lässt sich dies im digitalen Archiv von Radio Siegen gut nachvollziehen.
Wie steht es nun um die Aussagekraft der medialen Überlieferung hinsichtlich “sonstiger Kontexte” (Informationswert)? Worüber gibt das audiovisuelle Archivgut besser Auskunft als herkömmliche Archivalien?
A) Emotionen bei regionalgeschichtlich relevanten Themen.

Im Juni 2005 gelang dem damaligen Fußballregionalligisten Sportfreunde Siegen der Aufstieg in die zweite Fußballbundesliga. Die Aufstiegskonferenz ist in der Endphase hochemotional.
Dieser Eindruck kann durch keine andere Quelle ersetzt werden. Eine Nachfrage beim Chefredakteur von Radio Siegen und beim fußballinteressierten Landrat des Kreis Siegen-Wittgenstein ergab bei der Vorbereitung zu diesem Vortrag, dass beide Personen ohne Zögern den Ort benennen konnten, an dem sie die Konferenz gehört hatten. Ein Effekt,  der  z. B. bei einer Präsentation zur Sportgeschichte des Kreises Siegen-Wittgenstein nicht unwillkommen sein dürfte.

B) Bürgermeinung durch Umfragen

Im Gegensatz zu Leserbriefen bieten die Radioumfragen zu regionalen Themen einen ungeschönten Blick auf die Volksstimme. Der Abriss des Krupphochhauses in Siegen (2009)[4] nach langem Leerstand wurde 2007 öffentlich kontrovers diskutiert. Denkmalpfleger und Architekten votierten für den Erhalt dieser “Ikone der Nachkriegs-Moderne“ (2007). Während einige Leserbriefe moderat den Abriss des Gebäudes befürworteten, findet sich in einer Radio-Siegen-Umfrage (2007) der drastische Vorschlag der Sprengung.

Hier ergänzen die audiovisuellen Quellen die zu erwartende schriftliche Überlieferung.
C) Interviews mit regionalen Persönlichkeiten

Interviews mit regionalen Persönlichkeiten erweitern den Blick  auf deren Einschätzungen zu tagesaktuellen und  regionalen Themen. Einblicke in deren Privatleben sind gleichfalls zu erwarten, so gab Paul Breuer[5], Landrat des Kreises Siegen-Wittgenstein, anlässlich des 20. Geburtstages von Radio Siegen (2010) bereitwillig Auskunft über entspannende Momente als Pfeifenraucher auf dem regionalen Kulturfestvial KulturPur[6].
Archivterminologisch dürfte der Unterhaltungswert als Unterkategorie des Informationswertes angesprochen werden. Aber gerade die regionalen Comedysendungen von Radio Siegen kommentieren als “Hör-Karikatur” sowohl regionalhistorische Ereignisse als auch die regionale Mentalität. Denkbar wäre sogar der Einsatz von “Pannen” bei der Darstellung der lokalen Mediengeschichte.

Abschließend ist zum Quellenwert daher zu sagen, Als multimedial verwertbare, wertvolle Quelle lokaler Zeit-, Mentalitäts-, Biographie- oder Mediengeschichte ist die Überlieferung der lokalen audiovisuellen Medien von den kommunalen Archiven zu bewerten und zu sichern.

Die ältere und auch weiterhin ergänzende Überlieferung der öffentlich-rechtlichen Medien erreicht aufgrund deren regionalen Organisationsstruktur bei weitem nicht die Dichte der lokalen Rundfunk- und Fernsehsender.

Die Publikation „Empfehlungen Ton – Die Erhaltung von Tondokumenten“ (November 2008)[7] des schweizerischen Vereins Memoriav bietet grundlegende Erklärungen zu Tondokumenten, die für das Verständnis der Erhaltungsprobleme unerlässlich sind. Die dort gemachten Hinweise zur Sicherung und Erschließung stellen immer noch den derzeitigen Stand der Technik dar.

So wird als Dateiformat der zwischenzeitlich wohl bei allen Sendern ausschließlich vorhandenen, digitalen Audiodateien das wav-Format (oder darauf basierende Formate BWF bzw. AIFF) als zur Langzeitsicherung geeignet angegeben.
Ein archivischer Erschließungsstandard für Tondateien hat sich noch nicht ausgebildet. Bislang orientiert man sich daher an Vorgaben aus dem Bibliotheksbereich.

Beginn einer Kooperation zwischen dem Kreisarchiv Siegen-Wittgenstein und Radio Siegen
Durch Vermittlung des Kreispressesprechers (s. o.) kam es zunächst zu einem Gespräch zwischen dem  Leiter des Kreisarchives und dem Chefredakteur des lokalen Senders. Ziel war zunächst das Sounddesign des Senders zu erhalten, das bei den Vorbereitungen zum 20-jährigen  Bestehen im Jahr 2010 „gesichtet“ und vom Sender digital gesichert worden war.

Ziel des Kreisarchivs war jedoch von Beginn an die Sicherung der archivrelevanten Audios seit 2000, in diesem Jahr führte Radio Siegen eine digitale Programmverwaltung ein. Analoge Medien waren nicht mehr vorhanden. Diese Erweiterung der Kooperation fiel auf äußerst fruchtbaren Boden. Den Mitarbeitern des Kreisarchivs wurde an mehreren Tagen ein Arbeitsplatz im Sender zur Verfügung gestellt, der es erlaubte, weitestgehend ungestört alle Dateien durchzusehen und gegebenenfalls anzuhören.

Empirisch entwickelte sich so ein „Dokumentationsprofil“:

a) Alle erhaltenen Produktionsschritte zur Erstellung der Jahresrückblicke seit 2000 werden vollständig übernommen.
b)  Regional bzw. lokal wichtige Ereignisse und Projekte (z. B.  NRW-Tag in Siegen [2010][8], Wiederansiedlung der Wisente in Bad Berleburg [seit 2005][9]) werden berücksichtigt.
c) Kurioses wird, sofern vertretbar, berücksichtigt z. B. eine in den neunziger Jahren entstandene Bürogymnastikserie mit Silvia Neid[10].

Die ausgewählten Dateien stehen dem Kreisarchiv zur uneingeschränkten, nicht kommerziellen Nutzung mit Namensnennung zur Verfügung.

Ausblick

Eine jährliche, gemeinsame „Aussonderung“ der archivwürdigen Audiodateien ist vereinbart worden. Um die Audio-Überlieferung des lokalen Senders abzurunden, gilt es die schriftliche Überlieferung der den Sender tragenden Veranstaltergemeinschaft und der Betriebsgemeinschaft zu sichten und zu bewerten.

[1] http://unesdoc.unesco.org/ulis/cgi-bin/ulis.pl?catno=154103

Dieser Eintrag wurde bereits veröffentlicht:
1) Archivpflege in Westfalen und Lippe, 75 (2011), S. 37-39 (PDF)
2) Weblog „Archivalia“, 4.11.2011

s.a. https://www.siwiarchiv.de/2012/02/unibesuch-im-kreisarchiv/

2 Gedanken zu „Lokale Rundfunk- und Fernsehmedien – Quellen für ein Kommunalarchiv?!

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