Siebter Landrat des Kreises Siegen:
[Anm.: Zum sechsten Landrat des Kreises Siegen, Bourwieg, s. folgende Einträge auf siwiarchiv]
(1919-)1920-1935 Heinrich Goedecke
Volker Hirsch: Biographische Skizze Landrat Heinrich Goedecke (2003)
Heinrich Goedecke wurde am 14.07.1881 in Berlin geboren. Kurz nach seiner Geburt starb sein Vater, einige Jahre später auch seine Mutter, so dass Heinrich schon früh Vollweise wurde. Aufgrund seiner angeschlagenen Gesundheit beendete er seine Schullaufbahn an einem Gymnasium in Freiburg i.Br. Anschließend studierte er Rechtswissenschaften in Berlin, Genf und Marburg, um dann in Berlin sein Examen zu machen.[1] Im Alter von 23 Jahren legte er am dortigen Kammergericht sein Referendarexamen ab und war zunächst an den Amtsgerichten zu Rheinsberg und Potsdam tätig. In den folgenden Jahren war sein Leben geprägt durch zahlreiche Ortswechsel, als Regierungsreferendar wirkte er an verschiedenen Stellen in Schlesien. Des öfteren nahm er, wie seiner Personalakte zu entnehmen ist, krankheitsbedingten Urlaub. Nachdem er 1900 sein Regierungsassessorexamen abgelegt hatte, war er an den Landratsämtern Neuss und Geldern beschäftigt. 1912 wechselte er nach Münster, wo er ab dem 1. Oktober 1912 den Vorbereitungsdienst für die Regierungsreferendare zu leiten hatte. 1914 erfolgte die Versetzung an das Oberpräsidium am gleichen Ort. 1919 übernahm er zunächst die Leitung des Landratsamtes Schmalkalden, wo er allerdings nur kurze Zeit blieb.[2] Bereits nach rund einem halben Jahr bat Goedecke um Ablösung, weil, wie die Siegener Zeitung schreibt, die in Schmalkalden „im öffentlichen Leben vorherrschende marxistische Tendenz eine Lage schuf, die für einen Mann von der Art Goedeckes sich als unmöglich erwies“.[3] Sein neuer Dienstort wurde Siegen.
Goedecke in Siegen
Goedecke begab sich Ende 1919 mit seiner rund sechs Jahre jüngeren Frau Clara, geb. Jürgensen, und der vierjährigen Tochter Ursula nach Siegen.[4]
Am 1. Dez. 1919 führte der Kreisausschuss den Regierungsrat Goedecke als Stellvertretenden Landrat ein.[5] Am 16. März des folgenden Jahres entschloss sich der Kreisausschuss, Goedecke für die Besetzung des vakanten Landratsamtes vorzuschlagen. Allerdings regte sich gegen diesen Vorschlag Widerstand.[6] Die Siegener Ortsgruppen der SPD, USPD und der DDP äußerten sich mit einer Eingabe vom 8. April beim Innenministerium. Sie erhoben den Vorwurf, das das Landratsamt in den Tagen des Kapp-Putsches nicht das Engagement für die Republik gezeigt habe, dass man „von einem verfassungstreuen Beamten“ erwarten habe müssen. Daraufhin verzögerte sich die Bestellung Goedeckes zum Landrat durch die Preußische Staatsregierung bis zum 22. September.[7]
Goedecke musste sich noch des öfteren gegenüber dem preußischen Innenministerium rechtfertigen, u.a. weil er, ohne selbst gedient zu haben, Ehrenmitglied im Kreiskriegerverband war. Anlässlich der Republikfeiern wurde er regelmäßig von Fritz Fries attackiert, die sozialdemokratische Siegener Volkszeitung charakterisierte Goedecke als „Muß-Republikaner“.[8]
Als Goedecke zu Beginn des Jahres 1936 nach Münster wechselte, er wurde Vizepräsident beim dortigen Oberpräsidium, würdigte die Siegener Zeitung seine Tätigkeit in einem 1 ½ seitigen Artikel. Die Zeitung fand nur die besten Worte für den scheidenden Landrat, weshalb Goedecke sich bei Rothmaler auch ausdrücklich bedankte.[9]
Die SZ charakterisiert Goedecke mit den Worten: „Landrat Goedecke hat den Ruf eines überaus tüchtigen Verwaltungsbeamten, und es ist nicht zuviel gesagt, daß er einer der ersten und befähigsten preußischen Landräte war. […] Er vertrat den Standpunkt, daß der Vorgesetzte in der Lage sein müsse, jeden Arbeitsplatz in seinem Betrieb selbst auszufüllen.“ Auch während er Sitzungen leitete, habe er sich Akten zur Unterschrift vorlegen lassen. „In diesem Falle verarbeitete er nicht nur den vorgelegten Vorgang gründlich, machte seine Berichtigungen und Ergänzungen u. dgl., sondern er griff gleichzeitig, wo es ihm notwendig erschien, in die Verhandlungen ein und gestaltete sie nach seinem Willen.“ Und nicht nur seine Auffassungsgabe wird in der Regionalzeitung gerühmt. Goedecke habe auch durch seine menschlichen Qualitäten gewirkt, als solche wird jedoch ausschließlich „die Autorität seiner Persönlichkeit“ genannt. Weiter heißt es, Goedecke sei fest in das Vereinsleben integriert gewesen. So war er der Vorsitzende des Kreisvereins Männervereine des Roten Kreuzes, seine Frau hatte die gleiche Position bei den Frauenvereinen (vgl. Todesanzeige des DRK, SZ 23.10.1959). 1956 erhielt er das Ehrenzeichen des Roten Kreuzes.[10] Als Arbeitsgebiete, auf denen Goedecke erfolgreich war, nennt die Zeitung die Land- und Forstwirtschaft, insbesondere den Wandel von der Haubergswirtschaft zum Hochwald, das Schulwesen und der Straßenbau. Mehrfach wird die enge Verbundenheit zur Bevölkerung hervorgehoben, außerdem, dass Goedecke sich für die speziellen Belange des Siegerlandes und seiner Industrie auch in Berlin bei höchsten Stellen stark zu machen gewusst habe. Goedecke habe früh den freiwilligen Arbeitsdienst eingesetzt, um die erdrückende Arbeitslosigkeit zu lindern. In bezug auf die nationalsozialistische Machtergreifung im Jahr 1933 schreibt die Siegener Zeitung nicht ohne Stolz über den Landrat: „Allezeit ein Mann von reiner nationaler Gesinnung, war er derjenige, von dem bei der ersten Kreistagssitzung nach dem nationalsozialistischen Umbruch gesagt werden konnte: Unser Landrat ist nicht reformbedürftig!“[11]
Von der Seite der Nationalsozialisten brachte man dem Landrat allerdings weniger Wertschätzung entgegen. So meinte 1935 der Gauleiter, Goedecke sei es bis zum Sommer 1935 nicht gelungen, „in wirklichen engen Konnex zu Partei und ihren Stellen im Siegerland zu kommen“.[12] Laut Stelbrink war die NSDAP 1935 zumindest mitverantwortlich dafür, dass Goedecke 1935 nach Aurich versetzt wurde. Am 06.06.1935 hatte der Innenminister ihn mit der Vertretung des Anfang Mai als Ministerialrat nach Potsdam versetzten Auricher Vizepräsidenten Dr. Peucker beauftragt.
Goedecke in Aurich und Münster
Mit Schreiben des Preußischen Innenministers vom 29.10.1935 erhielt der stellvertretende Regierungspräsident „Herr Landrat Goedecke in Aurich“ die Mitteilung, dass der Minister ihn nun „zunächst vertretungsweise“ für die Verwaltung der Geschäfte des Vizepräsidenten zum OP nach Münster versetzte. Goedecke sollte sich möglichst bald nach Münster begeben. Der Regierungspräsident entband ihn darauf am 7.11.1935 von seinen Auricher Dienstgeschäften, Reisetag sei der 7.11.1935. Möglicherweise hat Goedecke aber auch erst am 19.11. Aurich verlassen.[13]
Ab 1936 war Goedecke dann bis 1942 Vizepräsident beim Oberpräsidium Münster, anschließend Regierungspräsident, dann wurde er in den Wartestand versetzt.[14] 1943-1945 war er als Generallandschaftsdirektor ebenfalls in Münster tätig.[15] So wurde der Vorsitzende der auf Provinzebene organisierten staatlichen Bank für Bodenkredit bezeichnet.
Rückkehr nach Siegen
Im Ruhestand kehrte Goedecke nach Siegen zurück. Offenbar waren die Bindungen, die er hier zwischen 1919 und 1935 hatte aufbauen können, stärker als jene der vergangenen 14 Jahre in Münster. Ab dem 27.05.1950 war Goedecke zusammen mit seiner Frau wieder Bürger der Stadt Siegen.[16] Bis zu seinem Tod am 21.10.1959 wohnte das Ehepaar in der Fürst-Bülow-Str. 19. Beigesetzt wurde er am 26. Okt. auf dem Hermelsbacher Friedhof.[17] Seine Frau Klara starb vier Jahre später. Im Jahr 2000 wurde das Grab der Eheleute eingeebnet.
Die Wertschätzung, die Landrat Goedecke vor allem durch die Siegener Zeitung erfuhr, spricht deutlich aus den Artikeln, die zu seinem 70. und 75. Geburtstag erschienen ebenso wie an den Nachrufen.[18] 1956 hat der Kreisausschuss über eine Ehrung Goedeckes diskutiert, allerdings war die angestrebte Verleihung des Bundesverdienstkreuzes nicht möglich, da Goedeckes Tätigkeit in die Zeit vor 1945 fiel. Mit der Besorgung eines Geschenkes im Einvernehmen mit dem Landrat wurde der Oberkreisdirektor Dr. Moning beauftragt.[19]
Goedeckes Tochter hat das Siegerland verlassen. Verheiratet mit Hans-Friedrich Schultze-Moderow war sie 1959 wohnhaft in Erlangen.[20]
Quellen und Literatur
StA Münster
Kreis Siegen
Personalakten Oberpräsidium G 12 (zu einem geringen Teil kopiert)
Oberpräsidium Münster, Nr. 7179 (in Auszügen kopiert)
Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin
- HA Rep. 77 Ministerium des Innern, Nr. 2, 3, 257, 4435, 4436
- HA Rep. 90 Staatsministerium, Nr. 1044
- HA Rep. 125 Prüfungskommission für höhere Verwaltungsbeamte, Nr. 1623
Bestände wurden geprüft durch Factes & Files.
Archiv des Landschafsverbandes Westfalen-Lippe, Münster
Eine Anfrage wegen der Tätigkeit Goedeckes als Generallandschafsdirektor in Münster von 1943 – 1945 blieb ergebnislos, nicht einmal ein solches Amt ist dort bekannt, was nach den Auskünften von Herrn Rudolf, Factes & Files, auch verständlich ist (s.o.).
Staatsarchiv Aurich
Rep. 16/1 (RP Aurich), Nr. 142, 153 (auf wichtige Biographische Hinweise bereits ausgewertet durch den Bearbeiter der Anfrage, s. das Antwortschreiben).
Hauptstaatsarchiv Düsseldorf
Drei Entnazifizierungsakten:
NW 1039-G Nr. 1979 (6 S.); NW 1037-BIV Nr. 1981 (3 S.); NW 1039-G Nr. 1880 (ca. 50 S.) Kopierkosten: 0,30 € pro Seite zzgl. Versand, Formular liegt bei.
Siegener Zeitung
- 09.1920, 06.12.1929, 05.11. u. 31.12.1935, 13.7.1951, 12.03.1955, 13.u. 17.07.1956, 22. u. 27. 10.1959
Westfalenpost
13.7. 1956
Stelbrink, Wolfgang: Der preußische Landrat im Nationalsozialismus. Studien zur nationalsozialistischen Personal- und Verwaltungspolitik auf Landkreisebene, Münster u.a. 1998 (Internationale Hochschulschriften, 255) [Biographie S. 245, S. 27 Anm. 159].
Dieter Pfau: Christenkreuz und Hakenkreuz. Siegen und das Siegerland am Vorabend des „Dritten Reiches“, Bielefeld 2000 (Siegener Beiträge: Studien zur regionalen Geschichte, 1) [zahlreiche Stellen, s. Register]
Irle, Lothar: Siegerländer Persönlichkeiten- und Geschlechterlexikon, Siegen 1974, S. 110.
Noch nicht bearbeitet:
Manfred Zabel: Die Heimatsprache der Begeisterung. Ausgewählte Reden und Schriften von Fritz Fries, Siegen 1990.
Walther Hubatsch (Hrsg.): Grundriß zur deutschen Verwaltungsgeschichte 1815-1945, Bd. 8: Westfalen, Marburg 1980, S. 303-304, dort Verwechslung mit Gustav Goedecke)
Hansgeorg Schiemer: Vor 70 Jahren: Volksbegehren und Volksentscheid gegen den Young-Plan 1929, in: Siegener Beiträge 4 (1999), S. 85-100.
Handbuch über den preußischen Staat (jährlich erschienen bis 1939 mit Nennung aller Beamten, Tipp von Herrn Rudolf, Factes & Files), im Stadtarchiv die folgenden Jahrgänge vorhanden: 1925-1927, 1929, 1930 (2 Teilbde.), 1931, 1934, 1935, 1938, 1939.
Siegerländer Heimatkalender 1961, S. 168
[1] Dies nach der Personalakte im StA Münster.
[2] Das Vorstehende nach SZ, 31.12.1935
[3] SZ, 31.12.1935.
[4] Meldekartei, StA Siegen. Clara Jürgensen wurde am 01.11.1887 in Meldorf in Luderdithmarschen, die Tochter am 19.03.1915 in Münster geboren.
[5] StA Münster, Kreis Siegen, Kreisausschuß Nr. 933. Vgl. SZ, 06.12.1919.
[6] Dies und das folgende nach StA Münster, Kreis Siegen-Wittgenstein, Kreisausschuß Nr. 933.
[7] StA Münster, Kreis Siegen, Kreisausschuß Nr. 933. Vgl. SZ, 30.09.1920.
[8] Pfau, Christenkreuz und Hakenkreuz, S. 39, 44, 56, vgl. S. 113, 176f. zu weiteren Verfassungsfeiern.
[9] SZ, 31.12.1935. Der Brief datiert vom 1. Jan. 1936. Goedecke erwähnt, daß er Siegen am folgenden Tag verlässt (bisherige Anschrift: Giersbergstr. 25; hierbei handelte es sich um ein kreiseigenes Wohnhaus, s. Kreis- und Finanzunterausschuss, Protokoll v. 11.09.1956), s. Archiv der Siegener Zeitung. Der Meldekarte ist zu entnehmen, daß Goedecke allein am 05.07.1935 nach Aurich verzog, seine Frau am 09.01. des folgenden Jahres direkt zum neuen Dienstort nach Münster zog, s. StA Siegen. Das gute Verhältnis zwischen der Siegener Zeitung und dem Landrat zeigt bereits die Würdigung des 10-jährigen Dienstjubiläums und die darauf übermittelten Dankesworte Goedeckes, s. Archiv der Siegener Zeitung, Art. vom 06.12.1929, Goedeckes Brief vom 08.12.1929.
[10] SZ, 31.12.1935
[11] SZ, 31.12.1935.
[12] Stellv. GL Stürtz an Frick 24.6.1935, in GStA Bln – Rep 77/4428); s. Wolfgang Stelbrink: Der preußische Landrat im Nationalsozialismus. Studien zur nationalsozialistischen Personal- und Verwaltungspolitik auf Landkreisebene, Münster u.a. 1998 (Internationale Hochschulschriften, 255), S. 47.
[13] Staatsarchiv Aurich, Rep. 16/1, Nr. 142. Die Paraphe „G“ an zweiter Stelle auf zwei internen Erlassen vom 27.5.1935 und 19.11.1935 (Staatsarchiv Aurich, Rep. 16/1, Nr. 153) lassen – die korrekte Identifizierung vorausgesetzt – noch die Vermutung zu, dass er eventuell erst nach dem 19.11. Aurich verlassen hat. Das Vorstehende stützt sich auf die freundlichen Hinweise von Herrn Dr. Wolfgang Henninger, StA Aurich.
[14] Stelbrink, S. 425.
[15] SZ, 22.10.1959.
[16] Meldekartei, StA Siegen.
[17] SZ, 17.07.1956.
[18] 13.7. 1951 Artikel in der SZ: Landrat Goedecke zum 70. Geburtstag, 13.7. 1956 zum 75. Geburtstages Goedeckes. 23.10.1959 erschienen drei Todesanzeigen in der SZ.
[19] Protokolle der gemeinsamen Sitzungen des Kreis- und des Finanzunterausschausses 24. April u. 15. Juni 1956.
[20] SZ, 23.10.1959 (Todesanzeige).
Ein Quellenfund fur Heinrich Goedecke:
National Archives Kew, FO 1060 [ Control Office for Germany and Austria and Foreign Office: Control Commission for Germany (British Element), Legal Division, and UK High Commission, Legal Division: Correspondence, Case Files, and Court Registers ]/1649 , Heinrich Goedecke, 1945
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